Stromrichter können das Verbundnetz auch mit sehr hohen Anteilen erneuerbarer Energien stabil halten Abschlusskonferenz des Projekts "Netzregelung 2.0"
Gemeinsame Presseinformation Fraunhofer IEE und TU Braunschweig
Das Stromversorgungssystem kann zukünftig auch ohne die stabilisierende Wirkung der Synchrongeneratoren konventioneller Kraftwerke betrieben werden. Das stellten die Fachexpert*innen des Forschungsprojektes „Netzregelung 2.0“ am 07. Juli 2022 gemeinsam auf der Abschlusskonferenz in Kassel fest. Das von Fraunhofer IEE koordinierte Verbundprojekt, an dem das Team um Professor Bernd Engel von der TU Braunschweig maßgeblich beteiligt ist, konnte zeigen, dass Anlagen mit netzbildenden Stromrichtern Momentanreserve bereitstellen und damit auch in Extremsituationen das System stabilisieren können. Zum Abschluss des Projekts diskutieren Stromnetzbetreiber mit Fachexpert*innen und Vertreter*innen des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz und der Bundesnetzagentur die Detailergebnisse und Fragen zur Einführung der neuen Technologie.
Bislang sorgen vor allem die Synchrongeneratoren von Großkraftwerken dafür, dass die Anforderungen an Frequenz und Spannung im Stromnetz eingehalten werden. Mit der Energiewende werden die Kraftwerke jedoch mehr und mehr durch Windenergie- und Photovoltaikanlagen ersetzt, die mit Stromrichtern an das elektrische Netz gekoppelt sind. Das vom Fraunhofer IEE koordinierte Verbundprojekt „Netzregelung 2.0“ konnte zeigen, dass Erzeugungsanlagen mit netzbildenden Stromrichtern Momentanreserve bereitstellen und damit auch in Extremsituationen das System stabilisieren können. Auf der Abschlusskonferenz diskutieren Stromnetzbetreiber mit Fachleuten und Vertreter*innen des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz und der Bundesnetzagentur Ergebnisse des Forschungsprojekts und Fragen zur Einführung der Technologie.
Die Ergebnisse des Verbundprojekts „Netzregelung 2.0“ zur Regelung und Stabilität im stromrichterdominierten Verbundnetz tragen zur Weiterentwicklung von Anwendungsregeln bei. Gefördert wird das 2018 gestartete und nun zu Ende gehende Verbundvorhaben vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz mit rund 10 Millionen Euro.
Alexander Folz, Regierungsdirektor im Referat Systemsicherheit des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz stellt fest: „Das Projekt Netzregelung 2.0 hat sich mit zentralen Herausforderungen für den zukünftigen Systembetrieb beschäftigt. Die Ergebnisse kommen genau zur richtigen Zeit für die Roadmap Systemstabilität des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz.“
„Wir sind überzeugt, dass sich das Verbundnetz – und im Störfall genauso Teilnetze – auch mit sehr hohen Stromrichter-Anteilen stabil halten lässt. Dafür bedarf es jedoch geeigneter Regelungsverfahren. Wir haben Anforderungen an diese Verfahren ermittelt und Regelungsverfahren entwickelt, die sicherstellen sollen, dass die Stromrichter einem sicheren und stabilen Systembetrieb dienen können“, erklärt Projektleiter Dr. Philipp Strauß, stellvertretender Institutsleiter des Fraunhofer IEE in Kassel. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Erarbeitung eines geeigneten Transformationspfades. „Neue Technologien müssen nahtlos in bestehende Netzregelungsverfahren eingebunden werden. Es gilt, den Übergang so zu gestalten, dass das entstehende System mindestens genauso stabil ist wie das derzeitige“, sagt Strauß.
Kontinentaleuropäisches Verbundnetz im Blick
Die neuen Regelungsverfahren und ihr stabilisierender Einfluss wurde unter Extremszenarien, wie zum Beispiel einem System-Split – d. h. einer Netzauftrennung quer durch Europa – simulativ bewertet. Starke Spannungseinbrüche wurden nicht nur berechnet, sondern auch im akkreditierten Labor nach bestehenden Standards durchgeführt. Eine besondere Herausforderung für die netzbildenden Stromrichter sind hierbei geeignete und extrem schnelle Strombegrenzungsverfahren. Die Forscherteams konnten nachweisen, dass sogar unter solch harten Bedingungen ein Beitrag zur Netzbildung geleistet werden kann.
Netzbildende Eigenschaften werden mittlerweile auch schon von Anlagen mit sehr großen Stromrichtern gefordert, welche beispielsweise zur Blindleistungskompensation im Übertragungsnetz oder in Kopfstationen der Hochspannungs-Gleichstromübertragung (HGÜ) eingesetzt werden. Zudem soll das Projekt einen Beitrag leisten, wie diese Anforderungen künftig in den technischen Anwendungsregeln für Erzeugungsanlagen abgebildet werden können. Bei all dem berücksichtigen die Projektpartner*innen auch die internationale Perspektive – schließlich ist das deutsche Stromnetz in das kontinentaleuropäische Verbundnetz eingebettet.
Forschungsfragen des Projektes
Auf der Abschlusskonferenz fasst Philipp Strauß die Ergebnisse zu den Forschungsfragen zusammen: „Im Projekt wurden netzbildende Regelungsverfahren mit optimierten Strombegrenzungsverfahren weiterentwickelt. Eine räumliche Verteilung der netzbildenden Anlagen ist notwendig und Momentanreserve kann im Übertragungs- und im Verteilungsnetz bereitgestellt werden. Neue Verfahren zur Inselnetzerkennung wurden entwickelt. Batteriesysteme, Windenergieanlagen, Photovoltaik-Anlagen, rotierende Phasenschieber, Statcoms und elektrische Lasten unter anderem können mit den neuen Regelungsverfahren netzbildend wirken. Ein reines Stromrichternetz durch netzbildende Regelung ist möglich und der nahtlose Übergang mit unterschiedlichen Anteilen an Synchronmaschinen ist realisierbar. Eine Spezifikation und neue Prüfverfahren wurden entwickelt unter anderem für die elektrische Trägheit, Netzbildung und Dämpfung.”
Ein zentrales Thema ist dabei das Zusammenspiel von Stromrichtern und Synchrongeneratoren. So analysierten die Partner*innen, in welcher Kombination und auf welcher Spannungsebene Synchrongeneratoren sowie stromeinprägend geregelte oder spannungseinprägend geregelte Stromrichter nötig bzw. zulässig sind, um die Systemstabilität zu wahren. Zudem bewerteten die Expert*innen die Spannungsqualität in den verschiedenen Arbeitspunkten des zukünftigen Systems vor dem Hintergrund, dass der Anteil der Synchrongeneratoren mit dem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien immer stärker variieren wird. In diesem Kontext untersuchten die Fachleute auch, welche Robustheitsanforderungen sich daraus für die spannungseinprägenden Regelungen ergeben.
Nicht zuletzt befassten sie sich auch mit der Frage, inwieweit ein stabiles Systemverhalten auch bei einer vollständig stromrichterbasierten Erzeugung möglich ist. Damit leistet das Projekt einen wichtigen Beitrag, die deutschen Klimaschutzziele zu erreichen.
Weiterer Forschungsbedarf
„Die Momentanreserve, die bisher aus den rotierenden Massen der konventionellen, fossilen Kraftwerke stammt und die Netzfrequenz des Energiesystems stabilisiert, kann auch effektiv dezentral durch netzbildende Wechselrichter in allen Spannungsebenen des Verteilnetzes erbracht werden“, präzisiert Prof. Dr. Bernd Engel vom elenia Institut für Hochspannungstechnik und Energiesysteme der TU Braunschweig. „In einem weiteren Forschungsprojekt wollen wir noch verbleibende technische Herausforderungen adressieren, wie zum Beispiel mögliche Leistungspendelungen zwischen den Wechselrichtern, die Kompatibilität mit vorhandenen Schutzgeräten und die Gefahr der ungewollten Inselnetzbildung.“
Projektbeteiligte:
In dem Projekt sind Vertreter*innen aller wesentlichen Akteur*innengruppen der Netzregelung vertreten: Neben dem Fraunhofer IEE und der Technischen Universität Braunschweig sind beteiligt die Universität Kassel, der Verteilnetzbetreiber EWE NETZ GmbH, E-ON SE mit ihren Töchtern Westnetz GmbH und Mitteldeutsche Netzgesellschaft Strom mbH, die Stromrichterhersteller und Systemanbieter SMA Solar Technology AG und SiemensEnergy Global GmbH & Co. KG, die European Distributed Energy Ressources Laboratories (DERlab e.V.) für die internationale Vernetzung, die Deutsche Energie-Agentur GmbH (dena), die vier Betreiber des deutschen Übertragungsnetzes sowie das Forum Netztechnik und Netzbetrieb (FNN) im VDE als die Netzanschlussregeln definierende Institution.