29. August 2024 | Presseinformationen:

Skaliertes Mittelstreckenflugzeug erfolgreich abgehoben Luftfahrt-Exzellenzcluster SE²A demonstriert Passagierflugzeug-Modell unter realen Bedingungen

In Peine bei Braunschweig konnten Wissenschaftler*innen das erste skalierte Flugzeugmodell der Technischen Universität Braunschweig demonstrieren. Eine weitere Besonderheit: Das Modell vereint verschiedene Technologien, um Energieverbrauch und Emissionen zu senken. Erstmalig konnte jetzt diese Konfiguration – etwa vorwärtsgepfeilte Tragflächen – im Zusammenspiel mit weiteren Flugzeugkomponenten getestet werden. Das Forschungsvorhaben „SE²A – Sustainable and Energy Efficient Aviation“ der TU Braunschweig beschäftigt sich bereits seit 2019 mit dem zukünftigen Luftverkehr und wie dieser effizient gestaltet werden kann. Im Projekt CLIME wurde dazu ein sogenanntes Scaled Flight Model (skaliertes Flugmodell) der SE2A-Mittelstrecken-Flugzeugkonfiguration entwickelt und in Faserverbundbauweise gefertigt.

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„Das ist unser Forschungsvehikel, um zukünftige Technologien an Mittelstreckenflugzeugen mit nachhaltigen Antrieben und radikaler Energieeinsparung in einem realen Umfeld – außerhalb von Labor und Windtunnel – zu untersuchen“, sagt Prof. Jens Friedrichs, Sprecher des SE2A-Clusters. Das Modell sei modular aufgebaut, sodass man die Tragflächen und die Antriebe austauschen kann. „Dieser modulare Aufbau ermöglicht viele neue Experimente, die wir in Zusammenarbeit von mehreren SE2A-Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorhaben. Das heißt, zum Beispiel, die Aerodynamik kann mit der Flugsteuerung und den Kollegen und Kolleginnen der Instrumentierung zusammen beispielsweise einen modularen Flügel planen und umsetzen. Auf diese Weise können wir die Grundlagen, die in Theorien und in der Numerik gezeigt wurden, im Experiment nachweisen. Das Modell macht so die Forschungsaktivitäten des Exzellenzclusters zur nachhaltigen Luftfahrt nicht nur frühzeitig sichtbar, sondern sichert sie auch in einem frühen Stadium ab, da hier bisherige Ergebnisse schon auf Systemebene zusammenfließen und zusammenpassen müssen.“

Vorwärtsgepfeilte Flügel und Überflügel-Anordnung der Triebwerke

Mitte Juni 2024 hob das Modell mit elektrischen Impeller-Antrieb und einer Spannweite von drei Metern bei einem Abfluggewicht von 18 Kilogramm ab. Im Mittelpunkt von CLIME steht die Erforschung von Flugdynamik und Triebwerkintegration in einer neuartigen Konfiguration. Was bei dieser Konfiguration auffällt, sind die vorwärtsgepfeilten Flügel und die Anordnung der Triebwerke über bzw. hinter der Flügelfläche sowie das zusätzliche Triebwerk am Heck.

Mehr Nachhaltigkeit beim Fliegen erreicht man, zum Beispiel, durch einen geringeren Treibstoffverbrauch. Der Treibstoff kann reduziert werden durch die Reduzierung des Luftwiderstandes. „Ein vielversprechender Mechanismus zur Luftwiderstandsreduktion ist der boundary layer ingestion effect, kurz BLI. Der Luftwiderstand wird vor allem durch die Umströmung der Flugzeugoberflächen und durch die Entstehung einer Grenzschicht generiert. Mit dem Heckantrieb schaffen wir es, die Grenzschicht abzusaugen und ein Impulsdefizit im Nachlauf aufzufüllen“, erklärt Dr. Christoph Bode vom Institut für Flugantriebe und Strömungsmaschinen der TU Braunschweig. Die über den Tragflächen angeordneten Triebwerkesaugen saugen wiederum Grenzschichten auf den Tragflächen ab. „Durch diese Anordnung der Triebwerke gerät allerdings der Schwerpunkt des Flugzeugs aus dem Gleichgewicht. Das wird durch die Vorwärtspfeilung der Flügel wieder aufgehoben.“

Testflüge erfolgreich

Die Flüge am 20. und 26. Juni 2024 waren die ersten sechs Flüge des Flugdemonstrators. Geprüft wurden zunächst Schwerpunktlage, Ruderausschläge, Trimmung und Flugeigenschaften in der gesamten Flugenevelope. „Bei der Erprobung des Basisvehikels hat sich gezeigt, dass die Auslegung der vorwärtsgepfeilten Flügel funktioniert, es lässt sich gut fliegen. Die Vorhersagen der Flugmechnanik haben sich erfüllt. Wir haben wie geplant deutlich mehr Antriebsleistung verbaut. Das bedeutet mehr Sicherheit bei kritischen Manövern und erlaubt eine Nutzlast von drei bis vier Kilogramm für die weitere Integration von Flugexperimenten“, sagt Prof. Jens Friedrichs.

Dr. Lutz Bretschneider vom Institut für Flugführung: „Im nächsten Schritt wird das Flugzeug mit weiterer Messtechnik ausgestattet, um die Flugeigenschaften genau quantifizieren zu können und diese mit den gerechneten Werten zu vergleichen. Darüber hinaus werden am Heck des Flugzeuges Drucksensoren verbaut, mit denen die absaugende Wirkung des Rumpftriebwerkes auch messtechnisch erfassen kann. Die Messergebnisse können dann mit den Daten der anderen SE2A-Forschungprojekte verglichen werden. Das Flugzeug kann und soll als Versuchsträger genutzt werden, zum Beispiel zur Untersuchung adaptiver Flügel, um eine aktive Flügellastabminderung zu erreichen und so weitere Strukturmasse zu reduzieren und damit auch Emissionen und Energieverbrauch zu senken.“

Über die Bedeutung von skalierten Modellen in der Forschung

„Wir sind davon überzeugt, dass neben der Erforschung von Grundlagen auch die angewandte Luftfahrtforschung notwendig ist, um eine „Innovationspipeline“ von der Grundlage in die Anwendung zu gestalten. Bereits seit den 1980er-Jahren führen wir deshalb Flugexperimente mit eigenen Forschungsflugzeugen durch. So erproben wir heute neue Luftfahrttechnologien in unserem neuesten Forschungsflugzeug Cessna 406. Natürlich ist das aufwändig und mit hohen Kosten verbunden. Der skalierte Flugversuch setzt hier gewissermaßen als game changer an“, sagt Prof. Dr. Peter Hecker, Vizepräsident für Forschung an der TU Braunschweig.

Durch die fortschreitende Miniaturisierung von Avionik- und Messsystemen sowie der immer besseren Verfügbarkeit von Modellbaukomponenten in Verbindung mit modernsten Fertigungstechnologien von Flugzeugstrukturen könne heute Luftfahrtforschung auch mit Hilfe von „Modellflugzeugen“ betrieben werden. „Durch den Einsatz skalierter Experimente, die wir in zusammen mit der TU Delft als strategischen Partner in der Luftfahrtforschung erarbeiten, können wir die Lücke in der experimentellen Bewertung von Forschungsergebnissen zwischen Windkanal und Flugversuch durch schließen. Damit gehören wir zu den wenigen europäischen Forschungseinrichtungen, die diesen Weg erfolgreich eingeschlagen haben.“

Das Exzellenzcluster SE2A der TU Braunschweig

Rund 140 Wissenschaftler*innen aus Luftfahrtforschung, Elektrotechnik, Energieforschung und Design arbeiten im Cluster. Ihre Ziele sind die drastische Senkung von Energieverbrauch und Emissionen von Flugzeugen, die Verringerung der Lärmbelastung, die Entwicklung eines angepassten Luftverkehrs-Managements sowie die ganzheitliche Bewertung im Hinblick auf den Ressourcenverbrauch und den Klima-Impact.

Die TU Braunschweig arbeitet im Cluster eng mit Luftfahrt-Expert*innen aus Deutschland und den Niederlanden zusammen. Partner sind Leibniz Universität Hannover (LUH), das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), die Hochschule für Bildenden Künste Braunschweig (HBK), die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) sowie die Technische Universität Delft (TU Delft).