Die Sprache der Mikroben Interdisziplinäres Projekt erforscht Kleinstlebewesen in spätmittelalterlichen Handschriften und ihre philosophische Bedeutung
An der Technischen Universität Braunschweig, der Universitätsbibliothek Leipzig und dem Leibniz-Institut DSMZ – Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen in Braunschweig ist mit „Kontamination und Lesbarkeit der Welt: Mikroben in Sammlungen zur Sprache bringen“ (MIKROBIB) ein neues Forschungsprojekt gestartet, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. Konzipiert von Professorin Nicole C. Karafyllis vom Seminar für Philosophie der TU Braunschweig, analysiert das Projekt die Welt des Buches erstmals mit Bezug zu Mikroben.
Während das Buch und mit ihm die Bibliothek als die Welt des Wissens gilt, ordnen Lebendsammlungen die Welt unseres Planeten auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Archaeen (Urbakterien) geben Auskunft über die Welt vor Milliarden Jahren, die Milchsäurebakterien über die Welt moderner Biotechnologie. Könnten Bakterien auch Auskunft über die Welt mittelalterlicher Handschriften geben? Dieser und weiteren Fragen geht der Verbund aus Philosophie, Mikrobiologie und Kulturwissenschaften die nächsten drei Jahre nach.
Das Team um den Mikrobiologen Professor Jörg Overmann (DSMZ/TU Braunschweig) analysiert in seinem Teilprojekt Kleinstlebewesen aus spätmittelalterlichen Handschriften im Bestand der Universitätsbibliothek Leipzig. Zusammen mit den kulturwissenschaftlichen Projektpartnern hinterfragt er dabei die verbreitete Annahme, dass Mikroben generell schädlich seien und daher unbedingt beseitigt werden müssten. Stattdessen werden sie im Projekt als Chance gesehen, neue Erkenntnisse über Geschichten einzelner Bücher zu gewinnen. Mikroben könnten also „Sonden der Buchbiographie“ sein, so die Annahme des Leipziger Teilprojekts unter Leitung von Professor Ulrich Johannes Schneider.
Das Braunschweiger Seminar für Philosophie stellt diese Untersuchungen in einen wissenssystematischen Kontext und fragt mit dem Philosophen Hans Blumenberg nach der „Lesbarkeit der Welt“. Denn traditionell bezieht sich die Bedeutung des Kulturguts Buch nur auf seine nichtlebenden Komponenten, weshalb Bibliotheken als Bestände toter Objekte begriffen werden. Umgekehrt geht man in der Genetik wie selbstverständlich davon aus, dass man im Genom „lesen“ könne. Was aber bedeuten diese Querbezüge für die Konzeption von „Welt“ und die Bibliothek als Speicher von Weltwissen? Lässt sich umgekehrt das Buch womöglich als Habitat – für Mikroben – begreifen?
Im Projekt wird die Idee verfolgt, dass Mikroben genuiner Bestandteil des Kulturguts sind. Mikroorganismen, die im Buch bis heute überlebt haben, können Informationen zur Nutzung in der Vergangenheit liefern. Professor Schneider erklärt: „Wir gehen davon aus, dass die geläufigen Wissensordnungen für das Buch und die Bibliothek um eine materielle Komponente ergänzt werden müssen.“ Koordinatorin Professorin Karafyllis ergänzt: „Dieser Umbruch betrifft auch bisherige Verständnisse von Sammlungen und Sammlungsordnungen. Denn bibliothekarische Sammlungen werden nach wie vor als Gegensatz zu sogenannten Lebendsammlungen begriffen.“ Das wird im Projekt nun umgekehrt – zunächst im Vergleich der Handschriftensammlungen der UB Leipzig mit den Sammlungen der „Mikrobenbank“ des Leibniz-Instituts DSMZ. Die Ergebnisse werden mit historischen Studien der herangezogenen Handschriften kombiniert. So wird das Verhältnis zwischen dem Buch als Objekt und seinem Inhalt, den es überliefert, in den Blick genommen. Dieser Zugang ist experimentell und neu. Er bietet die Grundlage für weitere Forschungen, die vielleicht sogar eine Neubewertung buchhistorischer Aspekte der spätmittelalterlichen Geschichte rechtfertigen und den Begriff „Kulturgut“ neu verstehen helfen.