17. März 2021 | Magazin:

Zwischen Online und Outdoor Professorin Esther Serwe-Pandrick zum Sportprogramm in der Pandemie

Kein Training mit der Fußball- oder Handballmannschaft, kein Besuch im Fitness-Studio und auch die Hallenbäder sind geschlossen. Dafür boomen in der Pandemie Sportangebote für zu Hause und viele haben das Laufen und Radfahren für sich entdeckt. Wir haben mit Professorin Esther Serwe-Pandrick, Leiterin des Instituts für Sportwissenschaft und Bewegungspädagogik der Technischen Universität Braunschweig, darüber gesprochen, wie sich Sport durch Corona verändert, welche Auswirkungen die Einschränkungen auf Kinder haben und wie das Institut das Sportstudium im Hybrid-Semester gestaltet.

Frau Professorin Serwe-Pandrick, wie haben Sie sich in den vergangenen Wochen unter Pandemiebedingungen fit gehalten?

Professorin Esther Serwe-Pandrick leitet das Institut für Sportwissenschaft und Bewegungspädagogik. Bildnachweis: Nastaran Lesani/TU Braunschweig

Die Corona-Pandemie hat natürlich jegliche Alltagsstruktur, in der sportliche Aktivität verortet, vielleicht auch institutionell verankert war – wie zum Beispiel meinen Spinning Kurs oder das Indoor-Bouldern – aufgelöst. Stattdessen finde ich mich in hybriden und paradoxen Kontexturen von Homeoffice, Home-KITA, Homeschooling und einem schwachen Überbleibsel informellen Seins wieder. Für mich persönlich bilden Bewegung und Sport grundsätzlich ein wichtiges Moment zur Rhythmisierung des Tages; zur Besinnung der Sinne, zum Wechsel von An- und Entspannung sowie zur interessanten Freizeitgestaltung. In den vergangenen Monaten hat der Spagat zwischen Familie und Beruf meine Fitness sehr wohl beeinträchtigt; in Bewegung bin ich aber dennoch vor allem mit den Kindern beim Mountainbiken, Joggen, Klettern und Toben.

Auf zahlreichen Kanälen werden Online-Sportkurse angeboten. Was sind Ihre Erfahrungen: Werden diese genutzt? Bewegen wir uns dadurch gerade mehr?

Es ist mitunter eine spannende Frage für die Sportwissenschaften, wie die Corona-Pandemie das Bewegungs- und Sportverhalten von Menschen beeinflusst. Vereinsbezogene oder kommerzielle Bewegungsangebote können allenfalls digital stattfinden und damit viele, zum Beispiel soziale Motive des Sporttreibens nur schwer bedienen. Erste Studien zeigen bereits eine deutliche Veränderung des Bewegungsverhaltens in der Gesellschaft auf. Während die moderate Bewegung insbesondere im Freien zugenommen habe, scheinen intensive Belastungen seltener.

Zuhause mit Online-Kursen zum Krafttraining, Yoga, Fitness, Tanzen oder Kämpfen aktiv zu bleiben, dürfte als ein wichtiges Moment der Gesundheitsförderung in der Pandemie betrachtet werden. Digitale Formate legen dabei vor allem trainingsbezogene Schwerpunkte, während soziale Kontakte und kulturelle Partizipationsmöglichkeiten stark eingeschränkt bleiben. Wie sich das Nutzungsverhalten solcher Angebote längerfristig im Pandemieverlauf entwickelt und welche Gruppen hier mehr oder weniger profitieren, müssten weitere Studien differenzierter aufzeigen.

Was lohnt sich tatsächlich, was eher nicht?

Was sich „lohnt“ oder nicht ist immer eine sinnbezogene Frage, die auf individuelle Prioritäten und Werte auch des Sporttreibens abzielt. Brauche ich gerade eher einen Yoga- oder einen Kickbox-Kurs? Je nachdem, was man sucht oder zu brauchen glaubt, ist das, was man findet, lohnenswert oder nicht. Es kann durchaus auch passieren, dass man in der Pandemie neue Varianten des Sich-Bewegens – zum Beispiel in digitalen Formaten – kennenlernt, von denen man zuvor nicht glaubte, sie seien lohnenswert und sich damit die Sicht auf das Sporttreiben sowie die Praktiken selbst verändern. Dabei lohnt ein Blick in das Angebot des Sportzentrums der TU Braunschweig: Hier werden Livestream-Kurse in vielgestaltiger Weise angeboten, an denen zahlreiche Studierende und Beschäftigte teilnehmen.

Welche Auswirkungen haben die Einschränkungen auf Kinder, die keinen Schulsport haben und auch nicht am Vereinssport teilnehmen können?

Die Auswirkungen des Ausfalls von Schulsport und Vereinssport für Kinder und Jugendliche sind insbesondere langfristig noch zu untersuchen, zum Beispiel hinsichtlich der motorischen Entwicklung sowie der gesundheitlichen Folgen. Neben diesen körperlichen Aspekten dürften allerdings die psychisch-sozialen Auswirkungen fehlender Bewegungserfahrungen in der Peergroup eine entscheidende Rolle für Kinder spielen. Ihre ganze Lebenswelt ist verändert. Sich ohne soziale Distanz, im direkten Kontakt, mit körperlicher Nähe begegnen zu können, erscheint für die Entwicklungsaufgaben im Kindes- und Jugendalter sehr relevant. In dem Diskurs über Sport in der Pandemie ist ein besonderer Fokus auf die Schule zu richten: Denn nur der Schulsport erreicht alle Kinder und Jugendlichen. Mit seinem Erziehungs- und Bildungsauftrag soll er zum Beispiel zur Identitätsentwicklung, einem reflektierten Körperkonzept und zur kulturellen Teilhabe am gesellschaftlichen Sport beitragen. Hier zeichnet sich eine große Leerstelle ab.

Welche Tipps haben Sie für Kinder und Eltern?

Man kann und muss wohl versuchen, die Not zur Tugend zu machen, neue Räume des Miteinanders und des Sich-Bewegens zu erschaffen. Meine Kollegin Dr. Andrea Probst hat für die „We care“-Plattform zahlreiche Videos mit Bewegungsspielen zusammengestellt. Unter „We move, kids!“ findet man tolle Ideen, damit die Kinder zu Hause gemeinsam oder alleine fit und aktiv bleiben.

Aus meiner Sicht erscheint es notwendig, die Entwicklungsaufgaben und Bedürfnisse der Kinder ernst zu nehmen, um auch zu erkennen, welchen pädagogischen Auftrag Eltern hier zu erfüllen haben und wie man Familien dabei unterstützen kann. Kinder und berufstätige Eltern laufen seit Pandemiebeginn am absoluten Limit des Leistbaren, weshalb ich vielleicht nur einen Tipp geben kann: Durchhalten!

Wie könnte Sportunterricht unter Pandemiebedingungen gestaltet werden?

Sportunterricht kann unter Pandemiebedingungen dann sinnvoll gestaltet werden, wenn es gute und gewissenhafte Hygienekonzepte gibt: mit kleineren, festen Gruppen, kürzeren Einheiten, ausreichender Belüftung, entsprechender Handhygiene, viel Abstand, reduziertem Material und auch zum Beispiel personalisierten Bällen und Leibchen. Gerade dort, wo viel Bewegung und soziale Kontakte gegeben sind, ist eine besondere Betrachtung des Fachunterrichts gefordert. In der Sporthalle lassen sich vielfältige soziale, zeitlich-räumliche und materielle Anpassungen vornehmen, mit denen Fachunterricht systematisch ermöglicht werden kann – Outdoor-Aktivitäten bilden bei entsprechendem Wetter ebenfalls eine gute Option.

Das Institut für Sportwissenschaft und Bewegungspädagogik in der Pockelsstraße. Bildnachweis: Andrea Probst/TU Braunschweig

Wie organisieren Sie im Hybrid-Semester die sportpraktischen Veranstaltungen und Kooperationen mit Schulen im Institut?

Innerhalb des Sportstudiums laufen eine Vielzahl der Lehrveranstaltungen im rein digitalen Modus. Zentrale sportpraktische Lehrveranstaltungen, die aufgrund der Entwicklung motorischer Lernprozesse und didaktischer Handlungskompetenzen der Studierenden kaum substituierbar sind, organisieren wir zunächst mit einer didaktischen Theorie-Praxis-Splittung. Alle theoretischen Inhalte werden auf digitalem Wege vermittelt und bearbeitet, während die Praxis in konzentrierten Blöcken in Präsenz stattfindet. Um diese sportpraktischen Situationen für Studierende und Lehrende verantwortungsvoll durchführen zu können, ist ein spezifisches Hygiene- und Durchführungskonzept für alle Lehrveranstaltungen erforderlich, ähnlich wie bereits für den Sportunterricht angedeutet.

Im vergangenen Sommersemester haben wir fast alle Lehrveranstaltungen nach Draußen verlegt. Das ist in diesem Sommer auch geplant. Um Kontakte weitestgehend zu verringern, haben wir beispielsweise Bewegungsfelder und Veranstaltungen weiterentwickelt, wie das Stockkämpfen, Skaten oder die Mountainbike-Exkursionen im Harz. Im vergangenen Jahr haben wir die Lehrveranstaltung „Schwimmen“ z.B. in den frühesten Morgenstunden mit den Studierenden im Freibad durchgeführt.  Auf der Organisationsebene ist das alles sehr aufwendig. Aber die Studierenden sind sehr dankbar und glücklich. Und auch unsere Lehrenden sind froh, eine gewisse „Normalität“ im Arbeitsalltag zu haben.

Die Zusammenarbeit mit Schulen findet bis auf Weiteres vornehmlich digital statt, was insgesamt auch gut funktioniert. So haben wir beispielsweise auch die Kooperation mit einer Grundschule zur Sprachförderung durch Bewegung auf ein digitales Format umstellen können.

Einer Ihrer Arbeitsschwerpunkte ist die Schulsportentwicklung. Wie sollte Schulsport künftig aussehen?

Mit der Schulsportentwicklung ist im Grunde eine systematische Arbeit an der Qualität des Faches gemeint, und dies in engster Anbindung an die Schulentwicklung. Vielleicht zeigt uns gerade auch die Corona-Pandemie eindrücklich, wie relevant schulisch verankerte Bewegungszeiten und pädagogisch-didaktische Auseinandersetzungen mit der Bewegungs-, Spiel- und Sportkultur für Heranwachsende und ihre Entwicklung sind. Unabhängig von der Pandemie erscheint es wichtig, den Sportunterricht fachdidaktisch weiter zu entwickeln, um Schüler*innen motorisch und kulturell handlungsfähig zu machen.

Ein zeitgemäßer Schulsport würde aus meiner Sicht dem Prinzip einer mehrperspektivischen und reflexiven Praxis folgen, um sinnvolle Lebensweltbezüge und inklusive Prozesse anbahnen zu können. Das bedeutet, beispielsweise das Laufen aus unterschiedlichen Sinnbezügen heraus zu untersuchen: der Hürdenlauf aus der Perspektive des Wagnisses, das moderate Joggen durch den Wald aus der Perspektive der Wahrnehmung, das Wettrennen aus der Perspektive des Leistens. Damit können Lehrkräfte Schüler*innen zeigen und erörtern, wie Bewegung und Spiel auch gesellschaftlich mit unterschiedlichem Sinn belegt werden kann und bieten ihnen so andere Möglichkeiten, ihren Sport zu finden.

Mit welchen weiteren Themen setzen Sie sich auseinander?

In der Forschung liegen meine Schwerpunkte in der theoretischen und empirischen Auseinandersetzung mit Fragen der Schulsportentwicklung (z.B. Bewegte Schule und Schulprogrammarbeit, Schulkultur und Ganztag) sowie der Qualität sportpädagogischer Lehr- und Lernpraktiken in der Schule (z.B. Inklusion und Diversität, sprachliche und ästhetische Bildung). Im Rahmen der fachdidaktischen Entwicklungsforschung und empirischen Unterrichtsforschung interessiere ich mich für Praktiken sowie für sprachliche Bildungsprozesse im Schulport.

Des Weiteren setzen wir im Förderprogramm „Innovation Plus“ des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur einen Schwerpunkt auf eine praxisbezogene Auseinandersetzung mit Inklusion im Sport und arbeiten an innovativen Lehr-Lernkonzepten für eine zeitgemäße Sportlehrer*innenausbildung.

Mit der Qualitätsoffensive Lehrer*innenbildung III des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) fokussieren wir die pädagogische Professionalität angehender Sportlehrkräfte und die Entwicklung digitaler Kompetenzen der Studierenden (DiBS). Das Teilprojekt Sport ist im „reflection space“ des Verbundprojekts verortet und untersucht den hochschuldidaktischen Einsatz von Videos hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, den Sportstudierenden im Sinne des forschenden Lernens einen verstärkt analytisch-reflexiven Zugriff auf sportbezogene Bewegungs- und Kulturpraktiken zu eröffnen. Die Leitidee einer „reflektierten Praxis“ bildet somit einen Dreh- und Angelpunkt der sportpädagogischen Lehre und Forschung am Institut.