Zwischen altägyptischer Architektur und niedersächsischen Herrenhäusern Professorin Ulrike Fauerbach ist neue Leiterin des Instituts für Baugeschichte
Wie viel Ägypten steckt in Europa? „Jede Menge!“, sagt Professorin Ulrike Fauerbach. Die Expertin für Altägyptische Architektur leitet seit dem 1. September das Institut für Baugeschichte. Im Interview hat sie Bianca Loschinsky und Heiko Jacobs erzählt, was wir aus der Geschichte für die heutige Architektur lernen können, warum das Studium historischer Bautechniken wichtig ist und warum wir uns über das Dorf der Zukunft Gedanken machen müssen.
Frau Professorin Fauerbach, Sie waren Professorin für Baugeschichte und Historische Konstruktionen an der OTH Regensburg. Warum haben Sie sich für die TU Braunschweig entschieden?
An der Fachhochschule Regensburg hat mir sehr gut gefallen, dass ich dort sehr breite Lehrerfahrung sammeln konnte, da der Fokus der OTH auf der praktischen Vermittlung liegt. Es ist alles sehr „hands on“. Nach dieser Zeit habe ich große Lust, wieder theoretische Zusammenhänge zu erforschen. Die Zugehörigkeit zu einer renommierten Uni in der Mitte Deutschlands ist natürlich ebenfalls ein großer Vorteil Braunschweigs. Das merke ich auch in der Vorbereitung meiner Forschung und Lehre ganz stark.
Sie sind Expertin für Altägyptische Architektur. Das ist ja nicht in der Mitte Europas. Wie viel „Ägypten“ steckt in Europa?
Natürlich jede Menge! Europa hat beispielsweise die Werkstein-Architektur von den ägyptischen Bauleuten gelernt. Aber ich finde auch spannend, warum sich die Frage eigentlich stellt. Wenn ich eine Expertin für klassische griechische oder römische Architektur wäre, dann hätten Sie die Frage vielleicht nicht so gestellt.
Ägypten taucht immer wieder als Inbegriff des „Anderen“ auf – übrigens schon in der Antike. Es zieht sich dann durch die Rezeption der ägyptischen Geschichte und Architektur. Das Andere ist immer eine Stärkung des „Wir“. Indem wir das Andere definieren und den Begriff umreißen, schärfen wir auch das „Wir“. Und das kann man an Ägypten wunderbar studieren. Diese Fragen werden gerade immer wichtiger: Die Konzepte des „Wir“ und des Anderen prägen unsere aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen. Die Forderung nach einer stärkeren Diversität in allen Fragen ist gerade sehr laut. Da kann man in der Architekturgeschichte mit Ägypten als Beispiel sofort einsteigen.
Was können wir aus der Geschichte für die heutige Architektur lernen?
Betrachtet man Ägypten haben wir es hier mit einer 3.000-jährigen zusammenhängenden Geschichte zu tun. Es wird als eine Kultur begriffen. Die Ägypter*innen des ersten vorchristlichen Jahrhunderts dachten immer noch als „Wir“, wenn sie sich die Pyramiden ansahen. Das ist wirklich ein Alleinstellungsmerkmal, wenn man auf die Architekturgeschichte des Mittelmeerraums und Europas schaut.
Jede Generation glaubt, Lösungen für die Ewigkeit zu finden. Wenn man wie in Ägypten ein über 3.000-jähriges „Versuchslabor“ vor Augen hat, merkt man, dass diese Lösungen oft nur eine Generation halten. Selbst wenn man so baut wie die altägyptischen Bauleute. Diese haben ja teilweise eine Gewährleistungsfrist von mehreren tausend Jahren erreicht. Und selbst da stellt man fest, dass die nächste Generation schon wieder ganz anders denkt. Zum Beispiel kippt das Verhältnis von Qualität zu Quantität zuweilen innerhalb einer Generation.
Und wenn wir noch weiter blicken, in die Stadt der Zukunft?
Die Erforschung der altägyptischen Architektur passiert nicht im luftleeren Raum, sondern findet im heutigen Ägypten statt. Ich habe sieben Jahre in Kairo gelebt, lange Jahre davor auch schon in den Provinzen mehrere Monate am Stück verbracht. Das ergibt sehr spannende Einblicke, was den Stadt-Land-Gegensatz anbelangt. Dieses rasante Bevölkerungswachstum ist wie ein Zeitraffer. Als ich das erste Mal Ende der 1990er Jahre in Ägypten gearbeitet habe, hatte das Land unter 70 Millionen Einwohner*innen. Jetzt wird die Bevölkerung auf über 100 Millionen geschätzt.
Da erlebt man, dass die Stadtplanung diesem Wachstum immer nur hinterher planen kann. Was ich dort auch für Deutschland mitgenommen habe, ist, dass wir uns auch um das Dorf der Zukunft Gedanken machen müssen und nicht nur über die Stadt der Zukunft.
Was hat Sie eigentlich dazu bewogen, in diesem Bereich zu forschen?
Ich habe mit 19 Jahren begonnen, Ägyptologie zu studieren. Da war viel kindliche Neugierde und Begeisterung, die mich dazu bewogen hat. Es war natürlich ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Aber ich bin dabeigeblieben, aus vielfältigen Gründen. Erstaunlich ist, dass die altägyptische Architektur immer noch sehr unterforscht ist. Hier können wir noch sehr viele Schätze heben.
Mit welchen weiteren Forschungsschwerpunkten und Projekten werden Sie sich in Braunschweig auseinandersetzen?
Zum einen habe ich bereits verschiedene lose Enden eines Netzwerks, die ich jetzt wieder verknüpfen kann. Beispielsweise bin ich schon lange in Kontakt mit dem Roemer-Pelizaeus-Museum in Hildesheim. Wir entwerfen gerade ein Projekt mit der HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen, um in Ägypten zu forschen.
Das zweite Thema, das ich mir auf die Agenda geschrieben habe, betrifft den Gegensatz zwischen Stadt und Land, den ich vorhin in Ägypten beschrieben habe. Der prägt beispielsweise auch die Oberpfalz, wo ich jetzt gerade herkomme, aber es prägt eben auch Niedersachsen. Wir haben die Städte mit einer teilweise sehr langen Geschichte mit rasanten Wachstumsperioden und wir haben einen historisch wahnsinnig spannenden und unglaublich reizvollen ländlichen Raum. Dieser hat viele Anknüpfungspunkte für ein Gefühl der Identität, bei der die Architekturforschung einen ganz wichtigen Teil beitragen kann.
Das heißt, das niedersächsische Hallenhaus in seinen vielen Variationen wird auch wieder eine Rolle spielen dürfen, auch in den Auswirkungen, die es zum Teil in zeitgenössischer regionaler Architektur hat?
Die Wohnhausarchitektur spielt natürlich eine große Rolle, aber für die Identität sind auch die Einzeldenkmale wichtig. Wenn man zum Beispiel an die Burgen, Schlösser und Herrenhäuser denkt, mit denen Niedersachsen reich gesegnet ist. Ich denke, es ist hilfreich, deren Wert wieder stark zu vermitteln, weil sie teils die Ortskerne und die Identität der ganzen Region mitprägen.
Was begeistert Sie an Ihrer Forschung? Was war Ihr schönstes Erlebnis als Wissenschaftlerin?
Der Erkenntnismoment ist das, was mich an der Forschung so begeistert. Das hat mich auch durch schwierige Phasen getragen: dieser eine Moment, in dem man plötzlich etwas versteht oder etwas zum ersten Mal sieht. Manchmal sind es nur Augenblicke, manchmal aber auch Prozesse, durch die man über Stunden, Wochen oder sogar Monate begreift: an dieser Stelle passiert etwas, das ist komplex, das ist interessant. Und irgendwann fällt der Groschen.
Ein Beispiel: Ich habe in einem ziemlich schlecht belichteten Treppenhaus aus dem ersten Jahrhundert vor Christus eine Architekturzeichnung entdeckt. Ich bin während der Forschungskampagnen sehr oft dort entlanggelaufen, aber irgendwann war der Lichteinfall richtig, um plötzlich etwas zu erkennen, an dem bereits hunderte von Leuten vorbeigegangen waren.
Um was für eine Architekturzeichnung handelte es sich dabei?
Das war eine Entwurfsskizze für ein Kapitell, die entweder ein Werkmeister oder ein Schüler in ein Fenstergewände eingeritzt hat. Es sind sehr dünne Ritzlinien. Normalerweise wird eine solche Fläche vorbereitet, oft eingefärbt, so dass man den weißen Kalkstein – in diesem Fall den hellen Sandstein – darunter gut erkennen kann, wenn man dort hineinritzt. Sobald die Färbung weg ist, sind die Ritzlinien kaum noch zu erkennen. Nach gründlichem Studium der anderen Fenster konnte ich noch zwei weitere Skizzen entdecken. Warum glaube ich, dass es ein Schüler war? Eine Zeichnung war durchgestrichen, vermutlich durch den Werkmeister.
Wir wissen sehr viel über die altägyptische Kultur. Doch letzten Endes kann man sich einer fremden Kultur nie wirklich annähern. Außer vielleicht in Momenten, die unserer eigenen Lebenserfahrung sehr ähnlich sind. Das ist das Tolle an der Bautechnik. Die Probleme sind dort oft die gleichen.
Vom ägyptischen Schüler zu unseren Studierenden. Was macht für Sie gute Lehre aus?
Gute Lehre ist eine Lehre, die Mut macht: sich nicht von persönlichen Schwächen verunsichern zu lassen und sich nicht davon abhalten zu lassen, wenn Dinge nicht sofort gelingen. Aber die auch Mut macht, sich nicht allzu sehr davon verunsichern zu lassen, was um uns herum passiert. Das Zeitgeschehen war ja schon immer sehr komplex. Doch dies wird uns aktuell sehr deutlich. Es fühlt sich teils recht bedrohlich an. Wenn man das in einen großen Zusammenhang einordnet, wie „Das hatten wir schon so ähnlich, das ging auch vorbei“, kann das hilfreich sein, und das versuche ich zu vermitteln.
Sehen Sie Parallelen in der Geschichte zur heutigen Situation?
Ich denke bei dem, was gerade bei uns passiert, an das Ende des 19. Jahrhunderts. Mit einer ähnlichen rasanten technologischen Entwicklung, die auch sehr beängstigend für die Zeitgenoss*innen war. Die technische Entwicklung macht oft rasante Sprünge, aber die soziale und auch die psychische Entwicklung hinken oft hinterher. Das liegt auch daran, dass wir diese teils zu Unrecht vernachlässigen.
So hat die Wissenschaft den Impfstoff gegen Covid 19 entwickelt, und wir sind davon ausgegangen, dass sich alle impfen lassen. Dann stellten wir aber überrascht fest, dass da nicht alle mitgehen. Ich finde, das ist ein sehr deutliches Beispiel für diese Prozesse. Wir müssen technische Entwicklungen mitbegleiten, sie verstehen und auch einbetten in den menschlichen Kontext.
Warum ist Baugeschichte auch für die heutigen Studierenden wichtig?
Ich glaube, dass sich die Bedeutung der Baugeschichte für das Architekturstudium im Laufe der Zeit sehr verändert hat. Der Umgang mit dem Baubestand wird aktuell immer wichtiger, schon aus Gründen der Ressourcenschonung.
Die gesamte Baugeschichte – im Grunde genommen ein 12.000-jähriges Labor – lehrt uns unter anderem Respekt vor dem Geleisteten und auch eine gewisse Bescheidenheit demgegenüber, was eine Generation leisten kann. Ich glaube tatsächlich nicht an die Lösung für die Ewigkeit. Dass es diese nicht gibt, kann man anhand der Baugeschichte ganz wunderbar aufzeigen. Das ist eine wichtige Erkenntnis, da insbesondere Lösungen für die Ewigkeit oft sehr ressorucenverbrauchend sind. Ich nenne hier zum Beispiel den städtebaulichen Entwurf „Plan Voisin“ von Le Corbusier, der vorsah, große Teile des alten Pariser Zentrums abzureißen und neu zu bebauen. Es wäre schön, wenn wir solche Ideen hinter uns lassen könnten.
Wenn man am Institut für Baugeschichte historische Bautechniken untersucht, wie viel können unsere Studierenden daraus für künftige Bauaufgaben – auch für Neubauten – lernen?
Die historischen Konstruktionsweisen sind beispielsweise sehr hilfreich, um den Zusammenhang von Konstruktion und Entwurf sowie statische Prinzipien zu verstehen. Bei den meisten historischen Konstruktionsweisen liegen sie offener dar als in unserer heutigen Bauweise. In der Lehre kann man immer wieder grundlegende Erkenntnisse der Studierenden erleben, wenn sie etwa eine historische Holzkonstruktion zeichnen.
Ebenso ist mir auch wichtig, Umdeutungen zu verfolgen, dass bestimmte Entwurfselemente, die eigentlich aus der Konstruktion kommen, sich ablösen und eine ganz andere Funktion bekommen. Etwa die Forderung der Ehrlichkeit der Architektur, dass der Entwurf die Konstruktion widerspiegeln soll, spielt für die Architektur der Moderne eine enorme Rolle. Dann stellt man bei genauerem Hinsehen manchmal fest, dass es mit der Ehrlichkeit nicht ganz so weit her ist. Das sind die spannenden Fragen. Ich glaube, da kann man sehr viel für das eigene Bauen mitnehmen.
Möchten Sie darüber hinaus den Studierenden noch etwas mit auf den Weg geben?
Ich möchte gern Mut machen, Dinge zu wagen, sich etwas zuzutrauen und sich vielleicht immer wieder klar zu machen, dass wir als Lehrende die Studierenden für eine Zukunft auszubilden versuchen, die wir nicht kennen. Wir können nicht so lehren, wie wir selbst unterrichtet worden sind. Uns ist vielleicht noch stärker als unserer Lehrenden-Generation klargeworden, dass wir Fähigkeiten allgemeinerer Natur vermitteln müssen, um die Studierenden für eine Zukunft zu rüsten, von der wir nicht wissen, wie sie aussieht.