28. Mai 2025 | Magazin:

Wird der Dritte Pol wirklich grüner? Warum Yak-Hirten und Wissenschaftler*innen der Fernerkundung zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen

Die Auswirkungen des Klimawandels auf das Grasland des Tibetischen Plateaus, auch bekannt als der „Dritter Pol“, stehen im Fokus intensiver wissenschaftlicher Forschung. Die naturwissenschaftliche Fachwelt beobachtet mithilfe von satellitenbasierter Fernerkundung ein „Greening“ der Region, also eine in ihrer Dauer oder auf die Fläche bezogene Zunahme der grünen, als Vegetation einzuordnenden Pixel. Das wird positiv gedeutet. Gleichzeitig berichten Yak-Hirten vor Ort jedoch von einer Verschlechterung des Weidelands. Wie passt das zusammen? Ein interdisziplinäres Team der Technischen Universität Braunschweig ist dieser Frage nachgegangen.

Yaks beim Grasen im Sommer. Bildnachweis: Siran Liang/TU Braunschweig

Ziel der Studie war es zunächst, herauszufinden, welche der beiden widersprüchlichen Beobachtungen – „Greening“ oder Degradierung – zutrifft. Doch bald wurde deutlich, dass diese Frage zu kurz gegriffen war. Die zentrale Erkenntnis: Beide Gruppen machen korrekte Beobachtungen und ziehen nachvollziehbare Schlussfolgerungen – allerdings basierend auf unterschiedlichen Bewertungskriterien. Diese Differenz erklärt die scheinbar widersprüchlichen Aussagen. Wie es zu dieser Erkenntnis kam – und was wir daraus lernen können – ist Gegenstand der Untersuchung von Petra Steffen, Siran Liang und Aida Taghavi Bayat.

Unterschiedliche Perspektiven

Die Doktorandinnen der Anthropologie, Ökologie und Fernerkundung sammelten, verglichen und analysierten verschiedene Datensätze, doch der Widerspruch blieb bestehen, und beide Parteien lagen richtig. Anstatt zu versuchen, einen Datensatz durch den anderen zu „korrigieren“, rückten die Autor*innen schließlich eine neue Frage ins Zentrum: Wie kommt jede der beteiligten Gruppen zu ihrer jeweiligen Einschätzung? Dafür bedienten sie sich der Methodik der so genannten „Valuation Studies“, um Vorannahmen, Werte und Erkenntnisweisen der beiden Gruppen zu verstehen.

Die Studie zeigt: Während Fernerkundungsdaten vor allem die räumliche und zeitliche Ausdehnung der Vegetation auf den Tibetischen Plateau dokumentieren, beurteilen die Yak-Hirten die Qualität und Menge der Vegetation als Futter für ihre Tiere. Dem zunehmenden „Greening“, aufgezeichnet durch Satelliten, steht eine Veränderung der Artengemeinschaften, Vitalität und Wuchshöhe gegenüber.

Zwischen Fernerkundung und Feldstudien

Diese Diskrepanz verweist auch auf ein tieferliegendes Problem: „In der Diskussion um ökosystemaren Wandel nehmen Naturwissenschaftler*innen, Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen und Hirten sehr unterschiedliche Rollen und Positionen ein“, sagt die Ökologin Petra Steffen. „Studien zeigen, dass letztere oft als Laien gelten, obwohl sie ihre Umwelt über lange Zeiträume hinweg präzise beobachten.“

Die von beiden Gruppen bereitgestellten Daten unterscheiden sich grundlegend voneinander: großflächige, aus der Ferne erhobene, quantitative Datensätze stehen einer kleinen Anzahl qualitativer, vor Ort erhobener Berichte gegenüber. Beide Formen des Wissens haben ihre Berechtigung – und erst im Zusammenspiel entsteht ein vollständigeres Bild.

Ein weiterer Aspekt ist der Kostenfaktor. Auf Fernerkundungsdaten lässt sich kostengünstiger zugreifen als aufwendige Feldstudien durchgeführt werden können. Diese Unterschiede verstärken das methodische und epistemologische Ungleichgewicht. Die Versuchung sei deshalb groß, die eine, „richtige“ Antwort zu suchen, anstatt die jeweiligen Perspektiven zu verstehen, so die Wissenschaftlerinnen. Angesichts der Größe und Unzugänglichkeit des Tibetischen Plateaus bietet die Fernerkundung zweifellos wertvolle Einsichten – damit verfügt sie über sehr viel Deutungshoheit, was aber auch Risiken birgt.

Grasende Yaks im Winter. Bildnachweis: Siran Liang/TU Braunschweig

Umweltveränderungen im Kontext

„Ein reduktionistischer Ansatz, wie er in der Umweltforschung der Naturwissenschaften viel Anwendung findet, kann zu einer problematischen Vereinfachung führen – insbesondere, wenn Anerkennungsstrukturen, Datenhierarchien (qualitativ vs. quantitativ, wenig vs. viel) sowie ungleiche finanzielle Ressourcen den Diskurs zusätzlich verzerren“, erklärt Petra Steffen.

Um solchen Vereinfachungen entgegenzuwirken, ist es laut den Autorinnen notwendig, unterschiedliche Formen des Wissens zu integrieren und den Wandel in der Umwelt  ganzheitlich zu betrachten. Ein möglicher Weg: widersprüchliche Perspektiven marginalisierter Gruppen nicht verwerfen, sondern sie als wertvoller Teil des Narrativs miteinzubeziehen. „Dies könnte nicht nur zu einem tieferen Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Natur und Gesellschaft führen, sondern auch zu einer gerechteren, pluralistischeren Zukunft auf dem tibetischen Plateau beitragen“, sind sich die Autorinnen der Studie sicher.

Lehren aus der interdisziplinären Zusammenarbeit

Der Weg zur gemeinsamen Publikation war für das Forschungsteam herausfordernd. Aus ihrer eigenen Zusammenarbeit und der Veröffentlichung eines interdisziplinären Artikels in einer Fachzeitschrift, die Gutachter*innen aus den Naturwissenschaften sowie den Geistes- und Sozialwissenschaften einbezog, haben die Wissenschaftlerinnen zentrale Erkenntnisse gewonnen:

„Struktur, Sprache und Stil unterscheiden sich erheblich. Immer wieder überarbeiteten wir Abschnitte, verwarfen sie und fügten sie erneut ein. Begriffe, die in den Naturwissenschaften als umgangssprachlich gelten, haben in den Geisteswissenschaften eine zentrale Bedeutung. Auch die Gewichtung von Inhalten unterscheidet sich deutlich: In naturwissenschaftlichen Publikationen treten die Autor*innen meist hinter die Forschung zurück, während in anthropologischen Texten die subjektive Perspektive der Forschenden explizit reflektiert wird. Reflexivität ist dort ein methodischer Bestandteil, in den Naturwissenschaften dagegen kaum vorgesehen.“

Ein Plädoyer für mehr Perspektivenvielfalt

Fachzeitschriften setzen in der Regel voraus, dass ihre Leser*innen über ein fundiertes Fachwissen verfügen. Für interdisziplinäre Artikel trifft das jedoch einfach nicht zu. Daher mussten mehr Begriffe erklärt und mehr Hintergrundinformationen als üblich geliefert werden; dies richtig einzuschätzen und zu transportieren erforderte Feingefühl.

Zudem gestaltete sich die Suche nach der passenden Fachzeitschrift schwierig – sie musste offen für interdisziplinäre Ansätze sein, sowohl sprachlich als auch strukturell. Auch bei der Überarbeitung wurde deutlich, wie leicht es zu Missverständnissen kommen kann, wenn unterschiedliche Fachkulturen aufeinandertreffen.

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit hat den Wissenschaftlerinnen neue Perspektiven eröffnet – und ihre Sicht auf das eigene wissenschaftliche Arbeiten nachhaltig verändert. „Wir schlagen vor, den methodischen Ansatz dieser Studie als Vorlage für ein nuanciertes Verständnis vermeintlicher oder tatsächlicher, interdisziplinärer Widersprüche zu nutzen. Das Schreiben für ein interdisziplinäres Publikum bot uns die Gelegenheit, eigene Vorannahmen sowie die Grenzen und Möglichkeiten unserer Fachgebiete zu reflektieren. Obwohl wir die Studie nicht in unsere Dissertationen integrieren können, möchten wir sie nicht missen.“