27. April 2021 | Magazin:

„Wir sprechen über eine Rekalibrierung der Baukonstruktion“ Professorin Helga Blocksdorf ist neue Leiterin des Instituts für Baukonstruktion

Birkenrinde als Baumaterial? Für Professorin Helga Blocksdorf ist die Nutzung dieses historischen Baustoffs nicht ungewöhnlich. Ganz im Gegenteil: „Wir müssen stärker wieder die Baustoffe, die traditionell zur Verfügung stehen, in die Lehre und Forschung mit einbeziehen.“ Und dazu auch konstruktive Experimente zulassen, wie sie die Architektin mit der Birkenrinde in einem Bauprojekt umgesetzt hat. Die Forschung an dem Naturmaterial hat Helga Blocksdorf jetzt mit an die TU Braunschweig gebracht. Seit 1. April 2021 leitet sie das Institut für Baukonstruktion. Bianca Loschinsky hat mit ihr über Fragen der Zukunft in der Architektur gesprochen.

Professorin Helga Blocksdorf ist neue Leiterin des Instituts für Baukonstruktion. Bildnachweis: Helga Blocksdorf

Frau Professorin Blocksdorf, sind Sie gut an der TU Braunschweig angekommen?

Vielen Dank, ich bin hier mit Blumen und einer großen Herzlichkeit aufgenommen worden. Mit einer Sondergenehmigung und den entsprechenden Regeln konnten wir in einem extra großen Raum mit 80 Kubikmetern im Institut für Landschaftsarchitektur von Professorin Gabriele Kiefer einen Workshop zum Auftakt stattfinden lassen. So konnte sich einmal das Team der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen persönlich kennenlernen und wir freuen uns sehr auf die gemeinsame Arbeit.

Sie waren Juniorprofessorin für Konstruktives Entwerfen und Erproben an der Bauhaus Universität Weimar. Wieso haben Sie sich für die TU Braunschweig entschieden?

Für mich ist die TU Braunschweig deshalb interessant, weil wir uns hier an einer großen Technischen Universität mit einem echten Diskurs sehr gut im Bereich Baukonstruktion neu aufstellen können. Mit dem Forschungsschwerpunkt „Stadt der Zukunft“ und Kolleg*innen wie Professor Harald Kloft, Professorin Elisabeth Endres und Professorin Tatjana Schneider sowie auch Professorin Almuth Grüntuch-Ernst entsteht bereits ein erfahrenes und forschungsinteressiertes Netzwerk, welches sich offen zeigt für Kooperationen. Natürlich sind wir mit rund 400 Studierenden je Semester in drei Jahrgängen parallel enorm in der Lehre und Grundlagenvermittlung eingebunden. Jedoch genau da wird der Samen für die Forschung und die drängenden Fragen der Zukunft gelegt. Weimar war für mich so etwas wie eine freundliche Aufwärmübung, auch bezogen auf die digitale Lehre. Was die Forschung angeht, können wir hier jetzt ernsthaft starten.

Sie haben gerade die „drängenden Fragen der Zukunft“ angesprochen. Welche sind das?

Was die Baukonstruktion betrifft, haben wir uns lange in einen Status quo gearbeitet, der mit vielen schwierigen Fragen verbunden ist. Müssen wir mit all diesen Kunststoffen bauen oder können wir diffusionsoffen agieren? Wie können wir innerhalb der gesetzlichen Rahmenbedingungen der Energieeinsparung und des Wärmehaushalts konstruieren, ohne dass wir schädliche Baustoffe einsetzen? Eigentlich sprechen wir damit über eine Rekalibrierung der Baukonstruktion. Hier sind wir alle – die Planung, das Handwerk, die Industrie und die Universitäten – aufgefordert, uns Gedanken zu machen, wie wir ressourcenschonend und divers in den Materialien arbeiten können.

Was heißt „divers in den Materialien“ genau?

Eine Erkenntnis, die unter anderem von Professor Dr. Christoph Gengnagel von der Universität der Künste in Berlin stark vertreten wird, ist, dass wir nicht nur mit drei Baumateralien – Stahl, Glas und Beton – bauen können. Wir sollten im Sinne der Artenvielfalt stärker wieder alle Baustoffe, die traditionell zur Verfügung stehen, in die Lehre und Forschung mit einbeziehen. Und wir sollten Möglichkeiten finden, DIN-Normen und Gesetze zu erweitern, sodass wir die Konstruktionen, die offensichtlicher Sondermüll sind, gar nicht erst einsetzen müssen.

Wenn man sich das in größeren Bauvorhaben vorstellt, ist das wirklich eine Aufgabe. Das wird künftig schon früh im Architekturstudium Thema sein. Dies wird zu Recht stark von den Studierenden eingefordert. Es ist einfach nicht mehr in Ordnung, jedes Haus im schönsten Sichtbeton darzustellen, zu denken und zu entwerfen. Ziel ist: Wie können wir unsere bisherigen Standards so rekalibrieren, dass wir verantwortlich dahinterstehen können, in der Lehre und in der Praxis?

Wie könnte das Rekalibrieren aussehen?

Hierzu ist die Kooperation – Coplanning wie Professor Jan Knippers und Professor Achim Menges (Universität Stuttgart) es nennen – von Architekt*innen und Ingenieur*innen von Relevanz. Auch das einfache Bauen von Professor Florian Nagler (TU München) geht nur in enger Zusammenarbeit mit Bauphysiker*innen und Tragwerksplaner*innen. Früher hatte man oft das Gefühl, dass die Baukonstruktion eine eher dienende Funktion hat und die entworfene Form für andere umsetzt. Jetzt kehrt sich das Verhältnis um. Einfach gesagt: Jetzt müssen wir die ersten sein, die forschen und dann können wir wieder über Formen sprechen. Dass uns Formen interessieren, ist bei uns intrinsisch motiviert. Es ist immer wie forschendes Entwerfen. Jedoch die Konstruktion spielt meiner Meinung nach eine tragende Rolle. Wenn wir die grundlegende – und eigentlich seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts (!) überfällige Handlungsanweisung „we need to change how we treat nature“ von Ursula von der Leyen für das New European Bauhaus ernst nehmen, dann müssen wir da viel radikaler eigenverantwortlich ans Werk gehen und dies aus dem Kern der Architektur heraus.

Mit welchen Projekten werden Sie sich in Braunschweig auseinandersetzen?

Das sind vor allem zwei Zukunftsfragen: Eine haben wir als Büro mit nach Braunschweig gebracht. Am Stadtschloss Weimar auf der klassizistischen Mauer von C.W. Coudray haben wir das historische Baumaterial Birkenrinde einsetzen können und einen ersten Prototypen gebaut. Bevor die Bitumenbahn erfunden wurde, war die Birkenrinde als Schutzschicht auf dem Dach üblich. Sie hat eine Haltbarkeit von 60 Jahren. Eine sehr gute Bitumenbahn hält rund 30 Jahre. Es gibt also einen konkurrenzfähigen Zeitraum, über den wir sprechen.

Da schließen sich jetzt weitere Fragen an, wie zum Beispiel, ob wir die Birkenrinde auch aus dem einheimischen Wald beziehen können. Darüber möchte ich auch mit Professor Mike Sieder vom Institut für Baukonstruktion und Holzbau sprechen. Wir haben bereits für Weimar mit der Materialprüfanstalt der TU Braunschweig zusammengearbeitet und die Birkenrinde mit der weltweit ersten transparenten Brandschutzlasur für den Außenbereich von Prof. Carl-Eric Wilen der Åbo Universität in Turku, Finnland, von der leichten (B2) auf die normale Entflammbarkeit (B3) testen lassen. Das hatte jedoch nicht den Status einer allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassung. Es ist eine Art testende Forschung, die in die Tiefe gehen kann und die Frage stellt, ob es in den Kanon der Möglichkeiten konstruktiv mit aufzunehmen ist.

Die zweite Zukunftsfrage dreht sich um das massive Bauen: Wie geht es mit dem Massivbau, Beton und Ziegel weiter? Denn Dämmziegel führen ebenso zum schwierigen Abbruchmüll, da diese Mineralwolle oder Klebstoff mit Porotonkügelchen enthalten. Das sind die beiden Schwerpunkte, in welche wir baukonstruktiv einsteigen.

Sie haben 2000 mit Florence Girod und Katharina Förster die Berliner Künstlerinnengruppe „après-nous“ gegründet. Um was ging es da?

Uns hat alle hat die Frage des Genzbereiches zwischen Kunst und Architektur sehr umgetrieben. Wir haben temporäre Installationen im öffentlichen und halböffentlichen Raum realisiert – u. a. in Berlin, New York und Kopenhagen. Selbst künstlerisch tätig zu werden, ist Teil meines Interesses. In der Praxis gibt es immer den Subtext in unseren Bauten und die Frage, ob „man“ sich für Kunst oder Architektur entscheiden muss, bleibt für mich weiterhin offen. Gesellschaftlich halte ich es in jedem Fall für extrem wichtig, dass es öffentliche Räume gibt, die ein Zusammensein ermöglichen unter anderen Spielregeln als rein ökonomischen, eben andere Räume.

Könnten Sie sich ähnliches auch für Braunschweig vorstellen?

Ja, durchaus, wenn wir beispielsweise über die Sichtbarkeit der Universität in der Stadt nachdenken. Idealerweise könnte das vor allem bottom-up funktionieren. Ob es Einzug in das Lehrkonzept findet, ist offen. Wir haben für die TU-Night 2022 geplant, eine Übernachtung unter einer prominenten Brücke mit den Studierenden zu zelebrieren. Dort wollen wir Texte zur Konstruktion öffentlich lesen. Dadurch wird die Diskrepanz zwischen der Minimalbehausung und der größtmöglichen Vorstellungskraft, wie wir sie im Entwurf benötigen, präsent. Ansonsten fände ich es toll, wenn die Studierenden ihre viel zu wenigen Plätze in den Zeichensälen temporär in jetzt leerstehende Ladenlokale bringen. Das liegt jedoch nicht in unserer Hand, sondern in der der Studierenden.

Was macht für Sie gute Lehre aus?

Die beste Lehre ist die, aus der sehr gute Architekt*innen oder auch Künstler*innen und Wissenschaftler*innen hervorgehen, d.h. die Lehre braucht eine gewisse Intensität. Wichtig ist außerdem ein Jahrgangs-, Gruppen- oder Klassengefühl: Dass sie die Freude entwickeln, in der Vorstellung eines gemeinsamen Zeichensaals durchs Leben zu gehen und damit den Diskurs niemals aufhören zu lassen – egal wo man sich befindet. Dieses gemeinsame Gefühl ist wichtig, um Raum für eine starke Identität zu ermöglichen.

Was wollen Sie den Studierenden – auch aus Ihrer eigenen Arbeit – mit auf den Weg geben?

Mich treibt der direkte Zusammenhang aus Konstruktion und Entwurf an. Dahinter steht auch immer die Frage nach dem Warum. Warum baue ich das jetzt und ist es wirklich ein poetischer Beitrag zur Sache? Hierfür möchte ich die Studierenden begeistern und die Türen öffnen in das ganze Universum der Konstruktion. Auch wenn vielleicht der Satz fällt: Das geht nicht oder das funktioniert nicht. Dann weiß man, dass man möglicherweise auf dem richtigen Weg ist. Jedoch ich möchte auch ermutigen, genau hinzuschauen: Wie ist früher gebaut worden, wie wird jetzt gebaut und wie kann in Zukunft gebaut werden?