19. Dezember 2019 | Magazin:

„Wir brauchen Role Models“ Interview mit Ulrike Wrobel, der neuen Zentralen Gleichstellungsbeauftragten der TU Braunschweig

Studieninteressierte in den MINT-Fächern gewinnen, Frauenanteile erhöhen, Studentinnen fördern und Nachwuchswissenschaftlerinnen an der TU Braunschweig halten – das sind nur einige Ziele, die sich Dipl.-Ing. Ulrike Wrobel als neue Gleichstellungsbeauftragte und Leiterin der Stabsstelle Chancengleichheit vorgenommen hat. An der Carolo-Wilhelmina ist sie keine Unbekannte. Sie hat hier bereits Architektur studiert und zuletzt die Zentralstelle für Weiterbildung gemeinsam mit Annette Bartsch geleitet. Wir haben mit ihr über Chancengleichheit, Zielzahlen und gelebte Diversitätskultur gesprochen.

Ulrike Wrobel ist die neue Gleichstellungsbeauftragte und Leiterin der Stabsstelle Chancengleichheit der TU Braunschweig. Bildnachweis: Artmann Braunschweig

Frau Wrobel, Sie sind ab dem 1. Januar 2020 die neue Gleichstellungsbeauftragte und Leiterin der Stabsstelle Chancengleichheit. Was bedeutet für Sie Chancengleichheit?

Unsere Gesellschaft und wir hier an der TU Braunschweig haben die Aufgabe, gleiche Chancen herzustellen: für Frauen und Männer, für Menschen mit und ohne Familienverantwortung und für Menschen mit unterschiedlichen Diversitätsmerkmalen. Der Gleichstellungsauftrag bedeutet die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern, und dass sie in allen Qualifikations- und Beschäftigungsgruppen gleichberechtigt vertreten sind. Denn wir wollen alle vorhandenen Fähigkeiten und Begabungen unserer Mitarbeiter*innen nutzen. Gerade bei Herausforderungen, die innovatives Denken erfordern, sind verschiedene Perspektiven und möglichst vielfältige Ansätze gefragt. Von einer vielfältigen Belegschaft, die offen miteinander umgeht und produktiv arbeitet, profitieren wir alle. 

Fordern männliche Beschäftigte an der TU Braunschweig es inzwischen öfter ein, Familienvereinbarkeit möglich zu machen?

Da gibt es ein neues Selbstbewusstsein von Vätern, die es ganz klar für sich in Anspruch nehmen, Familienzeiten umzusetzen. Wenn Männer, gerade in Führungspositionen, das Thema Vereinbarkeit bei ihren Arbeitgebern platzieren, dann können davon auch Frauen profitieren. Inzwischen kommen zu meiner Kollegin Anne-Christin Eggers im Familienbüro viele Väter zur Beratung und informieren sich über die Möglichkeiten Familie und Studium bzw. Beruf miteinander zu vereinbaren. 

Was macht die TU Braunschweig, um die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern?

Die strukturelle Verankerung von Gleichstellung auf allen Ebenen ist politischer Wille. Wir sind also gesetzlich dazu aufgefordert, Gleichstellung umzusetzen. Gleichstellung ist darüber hinaus auch Teil einer modernen Personalentwicklung. Unter anderem wurde die TU Braunschweig wiederholt mit dem Total E-Quality Award ausgezeichnet. Gleichstellung ist eine Querschnittsaufgabe und integraler Bestandteil aller Handlungsfelder unserer Universität. Das bedeutet, dass wir Gleichstellungspläne aufstellen, fortschreiben und umsetzen. Dort werden Zielzahlen fixiert für den Frauenanteil auf den verschiedenen Qualifikationsstufen. Wir wissen, dass ein Kulturwandel erst dann eintritt, wenn zum Beispiel Frauen in Studiengängen, in denen sie unterrepräsentiert ist, einen Anteil über 30 Prozent erreicht haben. Darunter haben Frauen in der Regel einen Außenseiterstatus.

Frauen haben oft Sorge, dass sie aufgrund von Quoten auf eine bestimmte Stelle gekommen sind und nicht aufgrund ihrer Leistung. Vor allem junge Frauen müssen erkennen und verstehen, dass sie nicht auf einem „Quotenticket“ fahren, sondern diese Stelle wegen ihrer guten Leistungen erreicht haben. 

Kürzlich ist unsere Hochschule der Initiative Klischeefrei beigetreten: ein Netzwerk von 170 Akteur*innen, die sich eine klischeefreie Ansprache und Bewerbung von Berufen und Studiengängen zum Ziel gesetzt haben. Wir wollen junge Menschen darin unterstützen, ein Studium zu wählen, das zu ihren individuellen Potenzialen passt und sich nicht an Rollenklischees orientiert.

Wie wollen Sie die Zielzahlen erreichen?

Wir brauchen Role Models, also sichtbare Vorbilder. Gerade in den technischen Fächern, in denen Frauen unterrepräsentiert sind, zum Beispiel im Maschinenbau, in der Informatik, in der Physik und in der Elektrotechnik. Dort liegen die Zahlen deutlich unter 30 Prozent. Die Role Models sollten den Zielgruppen nahestehen, für sie interessant und ansprechbar sein und Identifikationsmöglichkeiten bieten, zum Beispiel weibliche Führungskräfte für junge Mitarbeiterinnen und Professorinnen in den technischen Fächern für Studentinnen. Damit wollen wir Karrierewege für den wissenschaftlichen Nachwuchs öffnen. Deshalb beteiligt sich die Stabsstelle Chancengleichheit an passgenauen Programmen für verschiedene Qualifikationsstufen – auch im MINT-Bereich. Die Angebote bauen aufeinander auf und begleiten so auf dem Lebensweg von der Schülerin zur Studentin bis zur Professorin. Aktuell haben wir zwei neue Programme aufgesetzt: FEMnet und FEMentoring für Studentinnen und Nachwuchswissenschaftlerinnen. Dabei unterstützen wir mit Informations- und Beratungsangeboten und vernetzen die jungen Frauen. 

Außerdem sprechen wir gezielt Wissenschaftlerinnen an, zum Beispiel in Berufungskommissionen werden Kandidatinnen über Netzwerke auf Ausschreibungen aufmerksam gemacht. 

Damit die Fakultäten ihre Zielzahlen erreichen können, brauchen wir mehr dezentrale Maßnahmen, d. h. die Angebote müssen aus den Fakultäten kommen – wir unterstützen dabei sehr gern.  Ebenso wie bei DFG-Forschungsanträgen, in denen Gleichstellung ein wichtiges Kriterium ist. 

Welche Möglichkeiten der Familienvereinbarkeit bietet die TU Braunschweig?

Da haben wir eine ganze Menge Möglichkeiten, die gut in unserer Broschüre „Arbeiten und Studieren mit Kind an der TU Braunschweig“ zusammengefasst sind. Zum einen gehören dazu flexible Arbeitszeiten, Telearbeit und die Möglichkeit, kurzfristig im Home-Office zu arbeiten, zum Beispiel, wenn ein Kind krank ist. Ganz neu hat das Familienbüro „Fütter-Plätze“ eingerichtet: große rote Sessel als Rückzugsort für stillende Mütter oder „fütternde“ Eltern. In Zusammenarbeit mit dem Studentenwerk OstNiedersachsen betreibt die TU Braunschweig zwei Kitas. Die Plätze sind vor allem Studierenden vorbehalten. Wenn diese nicht belegt werden, können auch Beschäftigte dort einen Kita-Platz erhalten. 

Vor kurzem wurden wir zum fünften Mal seit 2007 mit dem das Zertifikat „audit familiengerechte hochschule“ ausgezeichnet. Und wir werden demnächst noch mehr Vernetzungsangebote für Väter und für internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Familie machen.

Im 1000 Professuren Programm sind außerdem Maßnahmen zur Vereinbarkeit Familie und Beruf verankert, wie zum Beispiel eine Flexibilisierung der Lehrverpflichtung und die Finanzierung einer zusätzlichen Hilfskraft zur Unterstützung in den ersten beiden Semestern nach der Familiengründung.

Was sind die wichtigsten Handlungsfelder in der Gleichstellung?

Im Rahmen der Bewerbung als Exzellenzuniversität ist der Bereich Chancengleichheit durchweg positiv beurteilt worden. Die Herausforderung ist jetzt, bereits Erreichtes weiterzuführen und Bedarfslücken zu schließen. Zwei Themen liegen mir besonders am Herzen.

Mit MINT 4 TU möchte ich einen Impuls zur Strategieentwicklung in den MINT-Fächern geben: Ziel ist, Studieninteressierte in den MINT-Fächern zu gewinnen, den Frauenanteil zu erhöhen, die Studentinnen zu fördern und Nachwuchswissenschaftlerinnen an der TU Braunschweig zu halten. Dazu schauen wir uns besonders die Studiengänge an, in denen Frauen unterrepräsentiert sind:  Maschinenbau, Elektrotechnik, Informatik und Physik. In dem Pilotprojekt wollen wir gemeinsam mit dem Braunschweiger Netzwerk für Gender und Diversity Studies und den Playern in den MINT-Fächern einen Akademischen Fachzirkel aufsetzen und bei der Studiengangentwicklung mithelfen: Über eine gezielte Ansprache wollen wir das Interesse der Frauen lenken.

Aus Studien wissen wir, dass sich junge Frauen besonders für Fächer interessieren, die eine gesellschaftliche Relevanz aufweisen, interdisziplinär angelegt sind und wo der Anwendungsbezug klar ist: Was mache ich damit in der Praxis und wie sieht nachher das Berufsfeld aus? Manchmal hilft es auch schon, die Studiengänge differenzierter zu benennen. 

Wichtig ist außerdem eine gendersensible Lehrgestaltung, die Wert auf Interaktion und Partizipation, kleine Gruppen und interdisziplinäre Projekte legt. Das kommt allen Student*innen zugute und spricht sie in ihrer Vielfalt an. 

Das Präsidium hat kürzlich Empfehlungen zur gendersensiblen Sprache herausgegeben, die TU-weit umgesetzt werden sollen. Damit soll Sprache an neue rechtliche Regelungen angepasst werden, der GenderStern * wird künftig den Schrägstrich / ersetzen. Stern und Unterstrich machen deutlich, dass es Menschen gibt, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlen. So soll die Akzeptanz aller Geschlechtsidentitäten alltäglich werden. 

Wird Gleichstellung irgendwann etwas Selbstverständliches sein?

Das hoffe ich sehr. Mein Ziel ist es, dass wir Gleichstellung irgendwann verinnerlicht haben und sie nicht mehr explizit einfordern und thematisieren müssen. Es sollte keine Rolle spielen, wer welches Geschlecht hat. Die am besten geeignete Person sollte die für sie passende Aufgabe übernehmen und sich über Geschlechtergrenzen hinweg frei entfalten können.

Wir sollten uns immer wieder neuen Ideen öffnen, unvoreingenommen und offen sein. Das gilt besonders wenn es um tradierte Rollenbilder, Klischees und Stereotype gilt, die uns unfrei machen und in unserer Persönlichkeit einschränken. 

Die Koordinierungsstelle Diversity befasst sich mit der Vielfältigkeit der Studierenden und Studieninteressierten. Mit welchen Herausforderungen werden sie an der Uni konfrontiert?

Die Herausforderungen sind sehr vielfältig. Das sind einmal bauliche Barrieren, gerade für Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Es ist teilweise für sie nicht möglich, in den Hörsaal zu kommen. Abhilfe schaffen soll ein Barrieremelder: Wer eine bauliche Barriere sieht, sollte diese melden, damit sie abgebaut werden kann. 

Aber es gibt auch Unverständnis aufgrund besonderer Bedürfnisse, zum Beispiel bei chronischen Erkrankungen, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind, bei Lernschwächen, Hör- und Sehproblemen. Manchmal ist es wichtig, von etablierten Regeln abzuweichen, zum Beispiel um bestehende Nachteile bei Prüfungen auszugleichen. 

Dann gibt es first generation students, die als erste in ihrer Familie studieren und vielleicht etwas unsicher sind, ausländische Studierende, die sich hier nicht auskennen, Menschen mit Diskriminierungserfahrungen usw. Ich bin wirklich froh über die Angebote, die unsere Koordinierungsstelle Diversity für die Studierenden bereithält.

Wie sieht für Sie eine gelebte Diversitätskultur an der TU Braunschweig aus?

Ein wichtiges Anliegen ist mir Vielfalt zu leben, zu schützen und zu fördern! Wichtig ist, die einzelnen Menschen, ihre Persönlichkeiten zu sehen. Dabei geht es mir um die Gleichberechtigung aller Geschlechter und diverser Geschlechtsidentitäten. Vielfalt anzuerkennen, ist für mich der wahre Kern der Gleichberechtigung. Wir sind eine Universität, wir haben es mit jungen Menschen zu tun, mit vielfältigen Personengruppen, mit einer großen Heterogenität, auch bei den Beschäftigten. Wichtig ist mir ein dialogisches Miteinander und ein respektvoller, toleranter und wertschätzender Umgang aller Mitglieder. Eine Strategie für Diversity sowie familienfreundliche Rahmenbedingungen vermitteln Wertschätzung, Weltoffenheit und Toleranz und steigern letztlich die Attraktivität der TU Braunschweig als Studien- und Arbeitsort.