Über Digitalisierung zur Internationalisierung Virtuelles Labor und Augmented Reality in der Eisenbahnlehre
Bis heute ist das Bahnwesen in seinen Betriebsverfahren, Regelwerken und Terminologien sehr national geprägt. Auch die universitäre Lehre bleibt oft in dieser Sichtweise gefangen. Durch digitale Lehrangebote soll sich dies nun ändern und ein Verständnis für Bahnsysteme anderer Länder aufgebaut werden. Dabei steht das virtuelle Eisenbahnbetriebslabor des Instituts für Eisenbahnwesen und Verkehrssicherung (IfEV) der Technischen Universität Braunschweig im Fokus.
Die Eisenbahnausbildung hat an der TU Braunschweig eine lange Tradition. Der erste Lehrstuhl für Verkehrs- und Eisenbahnwesen wurde schon 1925 eingerichtet, 1951 folgte das Institut für Eisenbahnwesen und Verkehrssicherung. Seitdem hat sich das Institut als kompetenter Ansprechpartner für zentrale Fragen der Eisenbahntechnik überregional einen Namen gemacht. Neben den Forschungsschwerpunkten des Instituts in den Bereichen Eisenbahnbetrieb und Eisenbahnsicherungstechnik spielt auch die digitale Bildung eine wichtige Rolle.
Lernen am simulierten Bahnbetrieb
Zentrales Element für die Lehre am Institut ist das virtuelle Eisenbahnbetriebslabor, das aus zwei Anlagen besteht. Zunächst gibt es hier die Echtzeitsimulation eines kleinen Bahnnetzes, das an fünf Arbeitsplätzen wie in einer Betriebszentrale gesteuert wird. Studierende übernehmen die Aufgaben von vier Fahrdienstleiter*innen, während die Übungsleitung die Rolle eines Disponenten bzw. einer Disponentin übernimmt. Die Fahrdienstleiter*innen sind dabei für jeweils einen Sektor in der Simulation zuständig und müssen virtuelle Züge in den nächsten Sektor leiten. Der oder die Disponent*in behält das gesamte Streckennetz im Auge und koordiniert den Zugverkehr und die Streckenbelastung.
Die zweite Anlage im virtuellen Eisenbahnbetriebslabor ist ein Fahrsimulator mit originalem Führerstand, auf dem sich Fahrten auf virtuellen Strecken in Deutschland und Österreich demonstrieren lassen.
„Das Labor wurde zur didaktischen Unterstützung der Vorlesungen in den Bereichen Bahnbetrieb und Bahnsicherungstechnik eingerichtet, um die teilweise doch sehr abstrakten Lehrinhalte anschaulicher vermitteln zu können“, erklärt Professor Jörn Pachl, Leiter des Instituts für Eisenbahnwesen und Verkehrssicherung. Normalerweise greifen Universitäten hier auf Übungen in gegenständlichen Eisenbahnbetriebsfeldern – also einem modellähnlich nachgebildeten Eisenbahnnetz – zurück. Da ein solches Betriebsfeld an der TU Braunschweig nicht vorhanden ist und Exkursionen zu bestehenden Betriebsfeldern den Bedarf der Lehrveranstaltungen nicht decken können, entstand die Idee eines virtuellen Eisenbahnbetriebslabors. Seit 2012 ist das Labor nun in Betrieb und wird regelmäßig erweitert und angepasst.
Augmented Reality als Unterstützung
Um nicht ganz auf physisches Anschauungsmaterial während der Lehrveranstaltungen verzichten zu müssen, bietet das Institut individuell durchführbare Rundgänge zu Bahnanlagen wie dem Bahnhof Gliesmarode im Osten der Stadt Braunschweig an. Als Visualisierung wird dabei auf Augmented Reality (AR) zurückgegriffen. Per App können sich die Studierenden den Rundgang auf ihr Smartphone laden und so den Bahnhof selbständig erkunden. „Technisch kann man sich das so ähnlich wie beim Pokémon-Jagen vorstellen“, spielt Professor Pachl auf das populäre AR-Spiel „Pokémon Go“ an. Für den Rundgang hat das Institutsteam virtuelle Objekte mit Bezug zu den Lehrveranstaltungen in den realen Bahnhof eingefügt, die Studierende mit ihren Handykameras aufspüren sollen. Werden Objekte wie Bahnübergänge und Rangierhalttafeln von der Kamera erfasst, öffnen sich Inhalte aus der Vorlesung mit weiteren Informationen. Zur Vertiefung der Lehrinhalte hat das Institut außerdem interaktive Lehrvideos mit Quizinhalten zu den Vorlesungen gedreht und in den Lehrveranstaltungen eingesetzt.
Was zunächst als Unterstützung gedacht war, ist bei den Studierenden so beliebt, dass die digitalen Zusatzangebote nun dauerhaft in den Lehrbetrieb integriert werden. Die Ergebnisse sprechen für sich: „Durch die didaktisch sehr effiziente Wissensvermittlung in interaktiven digitalen Umgebungen konnten einige Vorlesungsinhalte gekürzt werden, da sich die Studierenden das Wissen durch eigene Erfahrung erarbeiteten“, berichtet Professor Pachl. Simon Söser, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Eisenbahnwesen und Verkehrssicherung, beschreibt das zukünftige Lehrkonzept folgendermaßen: „Eine Fahrt am Fahrsimulator, in der ein Führerstand interaktiv bedient wird, ist etwas lehrreicher als ein Quizvideo. Jedoch unterstützt das Video beim Festigen der Lehrinhalte. Zur dauerhaften Integration wäre denkbar, dass nach der Vorlesung eine Fahrt am Fahrsimulator erfolgt und vor der Prüfung mittels Quizvideo der persönliche Wissensstand geprüft und gefestigt wird.“
Erste strategische Erasmus+ Partnerschaft erfolgreich eingeworben
Nicht nur in der digitalen Lehre beweist das Institut für Eisenbahnwesen und Verkehrssicherung Vorbildcharakter. Auch im Bereich Internationalisierung im Eisenbahnwesen hat das Institut eine Vorreiterrolle. Und dabei steht ebenfalls das virtuelle Eisenbahnbetriebslabor im Mittelpunkt. Im Sondercall „Digitale Bildung“ des Erasmus+ Programms stellte das Institut gemeinsam mit den Universitäten Zagreb in Kroatien und Žilina in der Slowakei einen erfolgreichen Antrag mit dem Titel „IDEALCAREL“, dessen Ziel es ist, den bisher stark national geprägten Charakter der Eisenbahnlehre zu einem europäischen Forschungsnetzwerk auszuweiten. Professor Pachl sagt hierzu: „Zurzeit arbeiten wir in dem ERASMUS-Projekt IDEALCAREL mit den Universitäten in Zagreb und Žilina an technischen Lösungen und didaktischen Konzepten, verschiedene Betriebslabore mit virtuellen und physischen Komponenten über das Internet zu verbinden und in länderübergreifenden Online-Sessions den Studierenden völlig neue Lernerfahrungen zu ermöglichen.“
„Bei der Antragslinie 2 des Erasmus+ Programms stehen die strategischen Partnerschaften im Vordergrund. Diese Antragslinie ist extrem kompetitiv“, weiß Francesco Ducatelli, Erasmus+ Hochschulkoordinator der TU Braunschweig. „Nur circa 15 bis 20 Prozent aller Anträge sind erfolgreich. Es freut mich deshalb sehr, dass das Institut für Eisenbahnwesen und Verkehrssicherung überzeugen konnte und somit die erste strategische Erasmus+ Partnerschaft an der TU Braunschweig eingeworben hat.“ Von März 2021 bis Februar 2023 wird das Projekt vom DAAD gefördert. Durch die Corona-Pandemie fand der Austausch der drei Universitäten bisher vorrangig online statt. Erst im April 2022 war das erste Treffen in Präsenz möglich. Professor Pachl und sein Team begrüßten die internationalen Kolleg*innen in Braunschweig. Weitere Treffen in Zagreb und Žilina sind bereits in Planung. „Wir wollen in der Projektlaufzeit nachnutzbare Konzepte und Lehrmaterialien entwickeln, die von anderen Hochschulen adaptiert werden können und somit dem gesamten Ausbildungssektor neue innovative Ansätze bieten“, erklärt Prof. Pachl die Ziele des Projekts. „Die internationale Vernetzung steht dabei im Fokus, deshalb ist es umso schöner, dass nun auch Treffen in Präsenz wieder möglich sind“, betont er.
„Geistige Interoperabilität“ schaffen
IDEALCAREL ist nicht das einzige internationale Kooperationsprojekt des Instituts für Eisenbahnwesen und Verkehrssicherung. Nach Braunschweiger Vorbild wurde im Rahmen einer Lehrkooperation an der Mahidol-Universität in Bangkok ein virtuelles Eisenbahnbetriebslabor für Lehrveranstaltungen zur Sicherungstechnik und Fahrplankonstruktion eingerichtet. Hier kann ebenfalls unter Echtzeitbedingungen der Betrieb eines simulierten Bahnnetzes von mehreren Fahrdienstleister-Arbeitsplätzen gesteuert werden. Die Simulation wurde dabei an die Gegebenheiten des thailändischen Eisenbahnnetzes angepasst.
Der gemeinsame Aufbau von Betriebslaboren und gegenseitige Besuche der Projektpartner sind ein wichtiger erster Schritt in der Internationalisierung der stark nationalgeprägten Bahnsysteme. Dabei spielt die technische Interoperabilität, also das Anpassen der technischen Gegebenheiten des Bahnnetzes an eine internationale Norm, eine untergeordnete Rolle. Vielmehr geht es darum, eine „geistige Interoperabilität“ zwischen den Akteur*innen im internationalen Bahnwesen zu schaffen, erklärt Professor Pachl, und meint damit, Kontakte aufzubauen und ein gegenseitiges Verständnis für in anderen Ländern eingeführte Prinzipien zu entwickeln.