Studierende aus Mumbai und Braunschweig erkunden Digitalisierung und soziale Ungleichheit Online-Lehrveranstaltung nutzt globale Krisen als Lehr- und Forschungsfeld
Wie wirkt sich die Corona-Pandemie und die dadurch beschleunigte Digitalisierung auf unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen in Indien und Deutschland aus? Studierende aus Braunschweig und Mumbai sind in einer gemeinsamen Lehrveranstaltung in interkulturellen und interdisziplinären Teams dieser Frage nachgegangen. Professorin Corinna Bath, Leiterin der Arbeitsgruppe „Gender, Technik, Mobilität“ an der Technischen Universität Braunschweig, und ihre Mitarbeiterin Dr. Sandra Buchmüller haben die Online-Lehre genutzt, um gemeinsam mit Professor Sugandh Malhotra vom Indian Institute of Technology Bombay eine neue Lehr- und Lernmöglichkeit anzubieten.
„Mit unserer digitalen Lehrveranstaltung wollten wir in Zeiten von Corona, Studierende auf den Umgang mit internationalen und globalen Anforderungen in Wissenschaft, Forschung und Profession adäquat vorbereiten,“ so Professorin Bath. Indische Studierende aus dem Bereich des Industriedesigns haben mit Braunschweiger Studierenden aus natur- und ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen ein Semester lang online zusammengearbeitet. In interkulturellen und interdisziplinären Teams untersuchten die Studierenden, wie sich die aktuelle Krise und die dadurch beschleunigte Digitalisierung auf unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen in Indien und Deutschland auswirkte. Mit Hilfe von Theorien aus dem Bereich der Feministischen Wissenschafts- und Technikforschung lernten sie, soziale Gruppen in den jeweiligen Ländern zu identifizieren, die von der Pandemie in besonderer Weise betroffen oder gar gefährdet sind, in der Technikentwicklung aber nicht angemessen berücksichtigt werden. Die Studierenden bedienten sich dazu Methoden aus dem Partizipativen Design und haben betroffene Nutzer*innen in die Entwicklung anwendungsgerechter technischer Lösungen mit einbezogen.
Digitales Lehrer*innenzimmer für Grundschullehrkräfte
Die interdisziplinären Teams aus Studierenden beider Hochschulen haben die Situation von Grundschullehrkräften, die Veränderung der Alltagsanforderungen von berufstätigen Müttern infolge der Schließung von Schulen und Kindergärten und die Situation von jungen Menschen mit psychischen Problemen in beiden Ländern untersucht, die sich unter den Lockdown-Bedingungen verschlimmerten oder sogar erst sichtbar wurden. Eine der Herausforderungen für alle drei Teams bestand angesichts von „Social Distancing“ darin, mit Personen der identifizierten Gruppen in beiden Ländern Kontakt aufzunehmen.
So erfuhren sie in Interviews, dass indische Grundschullehrer*innen im Unterschied zu ihren deutschen Kolleg*innen nicht im Staatsdienst tätig, sondern meistens prekär beschäftigt sind und durch die Schulschließungen befürchteten, ihre Anstellung zu verlieren. In beiden Ländern litten die Lehrer*innen vor allem unter dem fehlenden Austausch mit ihren Kolleg*innen und äußerten Befürchtungen, im virtuellen Unterricht von Eltern überwacht und in ihren Lehrmethoden kritisiert zu werden. Das studentische Forschungs- und Designteam entwickelte als technische Lösung eine Online-Plattform, die unter anderem ein digitales „Lehrer*innenzimmer“ zum Austausch unter den Kolleg*innen zur Verfügung steht.
Einblicke in unterschiedliche Alltagsrealitäten
Durch den interkulturellen Vergleich in den forschungs- und anwendungsorientierten Projekten gewannen die Studierenden konkrete Einblicke in unterschiedliche Alltagsrealitäten und gesellschaftliche Strukturen, entdeckten aber auch Gemeinsamkeiten zwischen den Ländern. Aus den Ergebnissen ihrer Untersuchungen entwarfen sie spannende Zukunftsszenarien und technische Lösungen, anschließend bewerteten die untersuchten Personen diese. Dazu gaben die untersuchten Gruppen den Studierenden eine Rückmeldung, inwieweit sie die jeweilige Situation verstanden hatten und die entwickelten Lösungen die Gruppen bei ihren Problemen unterstützen.
„Über den Austausch mit ihren Kommiliton*innen und in Kontakt mit Personen der untersuchten sozialen Gruppen lernten die Studierenden so nicht nur eine andere Kultur kennen und ihre Konsequenzen für bestimmte Alltags- und Berufsrealitäten“, sagt Dr. Sandra Buchmüller. „Sie wurden sich auch ihrer eigenen Kultur in regionaler und disziplinärer Hinsicht bewusst“. Eine Studentin fasst ihre Erfahrungen zusammen: “It was the first time for me working with people from other culture. We got into quite good discussions not just for tasks, but also cultural, language-based, geographical, historical and socio-political. We learnt a lot from each other and each other’s country”. Eine weitere Studentin beschreibt ihren Lernerfolg so: “The course also helped me understand how to minimize the effects of my assumptions and biases while working on identifying problems and generating probable solutions for a structurally marginalized target group.”
Die hohe Motivation der Studierenden zeigte sich auch in einem Beitrag eines Teams über die Projektergebnisse, die am 8. Mai 2021 auf der internationalen Human-Computer-Interaction-Konferenz AsianCHI 2021 vorgetragen und veröffentlicht wurde.
Krisen über Grenzen und Disziplinen angehen
„Der Kurs machte auf sehr konkrete Weise bewusst, welche Herausforderungen eine globalisierte Welt und ihre Probleme an heutige Forscher*innen und Technikentwickler*innen stellt“, so Professorin Corinna Bath. „Vor allem ist in der Lehrveranstaltung deutlich geworden, dass weltumspannende Krisen nur über kulturelle, nationalstaatliche und fachdisziplinäre Grenzen hinweg gemeinsam mit denjenigen untersucht und gelöst werden können, die die Auswirkungen an verschiedenen Orten unterschiedlich zu spüren bekommen.“
Das Team der Lehrenden in Braunschweig und Mumbai ist dabei, weitere Ergebnisse der Zusammenarbeit zu veröffentlichen, und plant bereits zukünftige gemeinsame Forschungsprojekte.