Role Model: Jan Büssers Erfahrungen als First Generation Akademiker
Das Projekt Role Models: First Generation Akademiker*innen an der TU Braunschweig macht im Rahmen des Fokus 2022 soziale Vielfalt an unserer Universität sichtbar, ermöglicht das Kennenlernen verschiedener Bildungsbiografien und schafft akademische Vorbilder für First Generation Students. Anhand von kurzen Interviews stellen sich verschiedene Mitglieder der TU Braunschweig vor, die als Erste*r in ihrer Familie studiert haben. Dieses Mal: Jan Büssers, Referent im Zentrum für Gender Studies der TU Braunschweig und Doktorand der Philosophie an der TU Darmstadt.
Wann haben Sie sich für ein Studium entschieden und was hat diese Entscheidung beeinflusst?
Tatsächlich hat Wissenschaft mich schon immer begeistert – sowohl die MINT-Fächer als auch die Geisteswissenschaften. Ich habe meine verpflichtenden Schulpraktika an der Justus-Liebig-Universität in Gießen absolviert und dort auch schon während der Oberstufenzeit Ringvorlesungen der Philosophie und der Physik besucht. Deswegen stand für mich schnell fest, dass ich nach dem Abitur studieren will. Die schwierigere Frage war eher „Was?“, da fehlten mir natürlich die Vorbilder in der Familie. Gleichzeitig war ich hin- und hergerissen zwischen der Faszination für Naturwissenschaften, insbesondere der Biowissenschaften, und dem philosophischen Nachdenken über die Welt. Das musste ich mit mir selbst ausmachen, auch wenn sicherlich die Frage von Familienangehörigen „Und was macht man dann damit?“, eher zu den Naturwissenschaften riet – wobei auch meine Wahl „Biotechnologie“ dann zu einer ähnlichen Reaktion führte. Dass sich schlussendlich beides studieren ließ, war dem Umstand meiner Studienortwahl geschuldet. An der TU Darmstadt gibt es den Masterstudiengang „Technik und Philosophie“, der gerade für Studierende, die vorher ein MINT-Fach studiert haben (ähnlich wie der KTW-Studiengang an der TU Braunschweig) interessant ist. Heute sehe ich mich mehr in den Geisteswissenschaften verortet, bin aber sehr froh, auch ein gewisses Verständnis und Grundlagenwissen der MINT-Fächer zu haben.
In welchen Situationen wurde Ihnen bewusst, dass Sie Erstakademiker*in sind?
Ich kann jetzt gar nicht genau sagen, was es mir bewusstgemacht hat, aber, dass an den Universitäten so eine gewisse Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Lebensrealitäten herrscht, war mir schnell klar. Vielleicht gerade solche Situationen, wie z.B. mein Bangen und Hoffen zu Beginn des Studiums, dass bald der BAföG-Bescheid und das erste Geld kommen, bevor meine Ersparnisse aus der Zivildienstzeit aufgebraucht sind. Während andere auf den ersten studentischen Partys von ihrer neuen Wohnung erzählten, die die Eltern am Studienort für sie gekauft hatten: Für mich als Arbeiterkind völlig utopisch. Daneben fehlten Orientierungshilfen, die einem eine verwandte Person mit Uni-Erfahrung geben kann, Antworten auf Fragen wie z.B.: Worauf sollte man achten? Was ist strategisch sinnvoll in den Curricula? Welche Institutionen an einer Uni können einem helfen? Wer kann auch mal einen Blick auf eine Studienarbeit werfen? Mit letzterem musste ich aber schon ab einem gewissen Punkt bei der schulischen Laufbahn zurechtkommen. Hilfreich ist auch zu wissen, dass auch andere Kommiliton*innen dieselben Probleme haben und man sich gegenseitig helfen kann.
Welche Botschaft würden Sie Ihrem studentischen Ich aus heutiger Sicht mit auf den Weg geben?
„Gib nicht auf!“ (wer es tanzbar mag und gelernt hat, auf das eigene „Leid“ zu tanzen, kann an dieser Stelle gerne Sia „Never give up“ anstimmen). Mag einfach klingen, aber dieser lange Weg durch Prüfungen, genau wie bei Dingen, die einem außerhalb des universitären Kontextes passieren, bringen einen manchmal dazu, aufgeben zu wollen. Das ist sicherlich kein Alleinstellungsmerkmal von First Generation Students, sondern Bestandteil jeder wissenschaftlichen Laufbahn – selbst noch in den sich anschließenden prekären Beschäftigungsverhältnissen an den Universitäten (Stichwort #IchBinHanna). Aber rückblickend auf diesen steinigen Weg würde ich weite Teile der Strecke wieder genauso absolvieren wollen.
Welche Ideen haben Sie, um die Chancengleichheit für First Generation Students zu verbessern?
Neben vielen Maßnahmen, die sicherlich in den Studiengängen beratend implementiert werden könnten, oder den Aufbau bzw. die Nutzung von Netzwerken, die bereits vorhanden sind, finde ich persönlich Sichtbarkeit wichtig, wie sie ja auch dieses Interview versucht zu schaffen. Es braucht mehr als Aufstiegsversprechen und wenig ermunternde Statistiken, sondern Kontakt zu Personen, die mit ihrer Geschichte anderen Hoffnung machen können und zeigen, dass es möglich ist. Es ist okay, dabei zu scheitern, aber es ist nicht okay, es nicht gewagt zu haben, weil man meint, dass ein akademischer Weg nicht vorgezeichnet ist. Vielleicht braucht es dazu auch noch literarische Werke, wie es sie in Frankreich mit Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ oder den Büchern von Édouard Louis schon gibt. Autobiographische Literatur, die bereits gegangene Wege illustriert und dabei auch zeigt, welche Hürden es im Leben zu überwinden gilt.