Regional- und Stadtentwicklung im Wandel der Zeit Felix Rösel ist neuer Professor für Volkswirtschaftslehre
Warum sind manche Regionen so viel attraktiver und wohlhabender als andere? Welche Auswirkungen haben regionale Unterschiede auf Zusammenhalt und wirtschaftliche Entwicklung? Mit Fragen wie diesen beschäftigt sich Felix Rösel. Ab 1. Oktober 2021 ist er neuer Professor für Volkswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Stadt- und Regionalökonomie am Institut für Volkswirtschaftslehre der TU Braunschweig. Im Interview spricht er über seine Forschung und über seine Philosophie für Studium und Lehre.
Herr Professor Rösel, womit genau beschäftigen Sie sich?
Schwierige Lebensentscheidungen wie diese kennen wir alle: In der Stadt nahe der Arbeit wohnen oder raus aufs Land und pendeln? Zum Masterstudium nach Berlin gehen oder in Braunschweig bleiben? Die Bio-Tomate aus Spanien oder aus konventionellem Anbau um die Ecke? Regionalökonomen interessieren sich für solche Standortentscheidungen, die etwas mit persönlichen Vorlieben, dem Geldbeutel, aber auch mit Infrastruktur und Politik zu tun haben. Privatpersonen, Unternehmen, Zulieferer, Behörden – sie alle suchen sich ihren bestmöglichen Standort. Manche Regionen ziehen besonders viele Menschen und Unternehmen an, andere haben weniger Zugkraft. Ich untersuche, warum das so ist und welche Auswirkungen regionale Unterschiede auf Wohlstand und wirtschaftliche Entwicklung haben.
Sie analysieren unter anderem historische Daten zur Regional- und Stadtentwicklung. Was hat Sie dazu bewogen, in diesem Bereich zu forschen?
Mir wurde einmal die Frage gestellt, warum trotz vieler Milliarden Euro an Finanzhilfen und sanierter Innenstädte die Unzufriedenheit in vielen Teilen Ostdeutschlands so groß ist. Die Arbeitslosigkeit ist quasi auf Westniveau, die verfügbaren Einkommen fast angeglichen. Wo ist also das Problem? Ich habe über viele Jahre hinweg wirtschaftshistorische Daten zusammengetragen, um dieser Frage endlich auf den Grund zu gehen. Meine Daten zeigen sehr deutlich, wie tief Ostdeutschland die Vergangenheit in den Knochen steckt. Der Osten hat gleich zweimal seine Jugend an den Westen verloren: in der Abwanderungswelle bis 1961 und dann noch einmal nach 1990. Heute ist Ostdeutschland bei der Einwohnerzahl zurück auf dem Stand des Jahres 1905, als noch der Kaiser in der Pferdekutsche durchs Land fuhr. Westdeutschland hatte dagegen noch nie so viele Einwohner wie heute und eilt von Rekord zu Rekord. Die Teilung Deutschlands hat unser Land mit voller Wucht auseinandergerissen und auf zwei völlig verschiedene Entwicklungspfade katapultiert. Wer das weiß, versteht auch die großen regionalen Unterschiede in der heutigen Gemütslage besser.
Inwiefern setzen Sie diese historischen Daten dann in Beziehung zur heutigen Zeit und was kann man daraus lernen?
Die Digitalisierung wird unseren Lebens- und Arbeitsalltag stark verändern. Wir stehen vor der schwierigen Aufgabe, diesen tiefgreifenden Wandel zu begleiten und zu gestalten. Historische Daten helfen uns zu verstehen, wie erfolgreicher regionaler Strukturwandel gelingen kann. Die Digitalisierung ist ja nicht der erste Strukturwandel in der Menschheitsgeschichte. Ich sammle historische Daten, die den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft und von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft dokumentieren. Einige Regionen in Deutschland haben Wandel deutlich besser gemeistert als andere. Diese Erfolgsrezepte können uns auch bei der politischen Gestaltung des heutigen Strukturwandels helfen.
Wird das auch Ihr Forschungsschwerpunkt an der TU Braunschweig sein?
Absolut. Wir müssen dabei aber vor allem an den ländlichen Raum denken. Die Stadt der Zukunft geht nicht ohne das Dorf der Zukunft. Beide Räume müssen wir intelligent verbinden und dafür neue Wege gehen. Früher wurden Landgemeinden einfach in größere Städte eingemeindet. Das war ein großer Fehler. Meine Forschungsergebnisse zeigen, dass Eingemeindungen kaum ökonomische Vorteile bringen. Der ländliche Raum fühlt sich aber entmachtet und verliert Einfluss. In der Ukraine geht man seit einigen Jahren einen anderen Weg und hat mehr Kompetenzen an die Lokalregierungen abgegeben. In einem internationalen Forschungsteam untersuche ich, ob und wie dieses Mehr an lokaler Autonomie zu Wachstum und Demokratie beitragen kann.
Warum haben Sie sich für die TU Braunschweig entschieden?
Die TU Braunschweig hat mit ihren Forschungsschwerpunkten eine klare Ausrichtung und eine überzeugende Idee entwickelt. Mich begeistert außerdem die Kombination von Spitzenforschung auf der einen Seite und die freundliche, offene und oft familiäre Atmosphäre auf der anderen Seite. Und als Wander- und Naturfreund finde ich die Nähe zu Harz und Elm einfach großartig.
Was war Ihr bislang schönstes Erlebnis als Wissenschaftler?
Wenn ein Forschungspapier von einer renommierten Fachzeitschrift angenommen wird, kribbelt es einige Tage lang richtig im Bauch – wie Weihnachten für Kinder. Das sind immer schöne Erlebnisse, weil sich dann die Mühe vieler Jahre gelohnt hat. Ganz besonders gerne erinnere ich mich aber an die Nobelpreisträgertagung in Lindau 2017 zurück. Dort kommen jedes Jahr junge Forscher*innen aus der ganzen Welt mit Spitzenökonomen zusammen. Bei herrlichstem Sonnenschein durfte ich am Bodensee Nobelpreisträgern wie Bengt Holmström meine Forschung vorstellen und mich beim Mittagessen darüber austauschen. Das war ein unvergesslicher Moment.
Welche Rolle spielt Wissenschaftskommunikation bei Ihrer Arbeit?
Es ist ein großes Privileg, als Wissenschaftler arbeiten zu dürfen. Ich empfinde es deshalb als Selbstverständlichkeit, meine Forschungsergebnisse in Gesellschaft, Medien und Politik weiterzutragen. Ich durfte in den letzten Jahren bei einigen Parlamentsanhörungen mitwirken. Immer wieder merke ich dabei, dass zu wenige Erkenntnisse den Weg aus den Fachzeitschriften in die öffentliche Debatte schaffen. Das gilt oft leider auch für die Lehre. Ich möchte aktuellste Forschung sowohl den Studierenden als auch der Öffentlichkeit zugänglich machen. Dieser Transfer ist übrigens auch sehr hilfreich für die eigene Arbeit. Oft merkt man erst beim Schreiben einer Pressemitteilung, was man wirklich erforscht und herausgefunden hat.
Was macht für Sie gute Lehre aus?
Gute Lehre heißt für mich: Leidenschaft und Verständlichkeit. Jede Fachdisziplin hat ihre Eigenarten. Ich finde es wichtig zu vermitteln, womit sich die eigene Disziplin beschäftigt, wie Forschende im eigenen Fach arbeiten und warum die eigenen Themen so wichtig für uns alle sind. So wird man neugierig und hungrig auf mehr. Gute Lehre braucht aber auch Verständlichkeit. Die einflussreichsten Forschungspapiere sind meistens auch besonders verständlich geschrieben und ihre Ideen auch deshalb so kraftvoll. Wenn Verständlichkeit in der Forschung hilft, dann doch erst recht in der Lehre.
In Kürze startet das Wintersemester 2021/22. Was möchten Sie den Studierenden mit auf den Weg geben?
Studieren, lesen und leben Sie in diesem Semester mit besonders viel Qualität. Tipp eins: Studieren Sie Qualität. Jagen Sie nicht Noten nach, sondern suchen Sie Ihr persönliches Herzensthema. Und trauen Sie sich, Expert*in für genau dieses Thema zu werden – für ein Semester oder fürs ganze Studium. Tipp zwei: Lesen Sie Qualität. Testen Sie eine gedruckte Tageszeitung im Probeabo. Fragen Sie Ihre Dozent*innen nach guten Fachzeitschriften und lesen Sie die Abstracts aktueller Ausgaben. Tipp drei: Leben Sie mit Qualität. Wenn es beim Lernen wieder nur zäh vorangeht, dann werfen Sie einen Dartpfeil auf eine Karte und fahren Sie einfach mal hin. Während der Bahnfahrt lässt sich prima die lange aufgeschobene Hausarbeit schreiben. Und eine unserer wunderschönen Städte und Regionen zu entdecken, macht glücklich.