Naturstoffe gegen tropische vernachlässigte Erkrankungen Gastdoktorand aus Brasilien untersuchte Wirkstoff gegen Auslöser von Chagas-Krankheit
Matheus Lopes Silva war für sechs Monate als Gastdoktorand von der Universität Universidade Federal do ABC‘ São Paulo (Brasilien) an der TU Braunschweig tätig. Im September 2022 kam er für seine Forschung nach Deutschland, um unter der Anleitung von Dr. Gerold Jerz im Institut für Lebensmittelchemie zu arbeiten. Hier berichtet er, warum Wirkstoffe gegen sogenannte Neglected Tropical Diseases so wichtig sind, worin die Herausforderungen bestehen und wie ihn die Universität dabei unterstützen konnte.
Als Teil des „Forschungsnetzwerkes Naturstoffe gegen vernachlässigte Erkrankungen“ (Research Network Natural Products against Neglected Diseases, ResNetNPND), in dem mein Doktorvater Prof. João Lago (UFABC) und Dr. Gerold Jerz teilnehmen, isoliere ich Naturstoffe mit biologischem Potential – sogenannte Metabolite natürlicher Herkunft (Pflanzen, Pilze, Bakterien etc.), die eine Wirksamkeit gegen die unheilbare human-pathogene, parasitäre Chagas-Erkrankung (Trypanosoma cruzi) haben könnten.
Naturstoffe waren über die letzten 40 Jahre in vielen Fällen die Hauptquelle bei der Suche von molekularen Prototypen (Leitstrukturen), aus denen neue Medikamente entwickelt und für therapeutische Zwecke zugelassen wurden. Es gibt eine Reihe von Naturstoffen, die bis dato direkt ohne weitere chemische strukturelle Abwandlung als Therapeutika eingesetzt werden, u.a. Chinin und Artemisin gegen Malaria, Morphin als Betäubungs- und Schmerzmittel, Epothilon und Vincristin als Zytostatika in der Tumorbehandlung, um hier nur einige klassische Beispiele zu nennen.
In diesem Sinne kann die klassische pflanzenchemische Analyse (chromatographische Isolierung) und die sich anschließende Charakterisierung (u.a. mittels Massenspektrometrie, Kernresonanz-Spektroskopie) von potentiell bioaktiven Naturstoffen auch zur Entdeckung von neuen wirksamen Substanzen gegen die hier im Folgenden erklärten vernachlässigten Erkrankungen gesehen werden.
Wie von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert, sind als Neglected Tropical Diseases (NTD) mehrere Erkrankungen aufgeführt, die vor allem in subtropischen und tropischen Klimazonen auftreten, aber als Hauptmerkmal in besonderem Maße die arme Landbevölkerung betreffen.
Was bedeutet „vernachlässigt“?
Generell ist die Entwicklung neuer, wirksamer Pharmaka von der Wirkstoffentdeckung bis zum zugelassenen medizinischen Endprodukt ein sehr langer und vor allem kostspieliger Weg.
In der Vergangenheit hat sich die pharmazeutische Industrie wenig in der Erforschung von Therapeutika in diesem Wirkstofffeld betätigt, obwohl diese NTD mehrere Millionen Menschen akut betreffen. Es besteht also ein enormer Bedarf an neuen innovativen Wirkstoffen, um den Betroffenen zu helfen, sie vor Krankheiten und Tod zu bewahren und um auf die sich entwickelnden Resistenzen vorbereitet zu sein. Diese Problematik fehlender neuartiger Wirkstoffklassen kennen wir sehr gut auch auf dem Gebiet der Antibiotika, um resistente bakterielle Infektionen u.a. Tuberkulose behandeln zu können.
Eine der bedauerlichen Erklärungen für diese Situation ist, dass vor allem für ländliche Regionen der sich entwickelnden Länder eine teure Medikamentenversorgung nicht finanzierbar ist. Demzufolge besteht aus industrieller Sicht ein Ungleichgewicht (cost-investment-imbalance), die eine moderne und effiziente Erforschung von neuen Wirkstoffen nicht sehr attraktiv erscheinen lässt.
Das Netzwerk ResNetNPND besteht aus einem universitären Zusammenschluss multinationaler Forschergruppen, die sich zur Aufgabe gesetzt haben, eigenständig und finanzierungs-unabhängig im großen Portfolio der Naturstoffe nach wirksamen Leitstrukturen zu suchen.
Brasilien trägt zur Zeit eines der höchsten medizinischen Lasten in Bezug auf die NTD, zum Beispiel durch Mücken und andere Insekten übertragene lebensgefährdende Virus-Erkrankungen (Dengue, Zika, Chikungunya und Gelbfieber) und ebenso parasitäre Erkrankungen (Malaria, Leishmaniasis, Schistosomiasis und Chagas-Krankheit).
Mit 15 bis 20 Prozent ist Brasilien aber auch ein Hotspot der weltweiten Biodiversität. Diese bestehende Vielfalt an Pflanzen und Pilzen könnte eine nahezu unendliche Bibliothek an Naturstoffen liefern. Im letzten Jahrzehnt wurden mehrere Artikel zu der Bioaktivität von Verbindungen aus der endemischen brasilianischen Gattung Baccharis publiziert.
Herausforderung: Substanzen in komplex zusammengesetzten Extrakten lokalisieren
In der Pflanzenfamilie Asteraceae untersuche ich speziell in meiner Dissertationsarbeit einige dieser Vertreter der Gattung Baccharis. Im Fokus steht die Art B. sphenophylla, einer zuvor noch nicht phytochemisch untersuchten Pflanze. Extrakte, die durch Lösemittel-Mazeration gewonnen wurden, zeigten Aktivitäten gegen den Parasit Trypanosoma cruzi, dem ursächlichen Erreger der bislang nicht heilbaren Chagas-Krankheit. Die wichtige Aufgabe für den Naturstoffchemiker bzw. die -chemikerin ist es, die für die biologische Aktivität verantwortlichen Substanzen in diesen sehr komplex zusammengesetzten Extrakten zu lokalisieren, um sie dann auf präparativen Wegen für die weiteren wichtigen Bioaktivitätstestungen zu isolieren und ausreichend verfügbar zu machen.
Warum die TU Braunschweig?
Die Aufreinigung von Naturstoffen kann sehr zeitaufwendig und kostenintensiv sein und sich unter Umständen über mehrere Prozessstufen erstrecken. Aus diesem Grund bin ich an das Institut für Lebensmittelchemie der TU Braunschweig gekommen, um mittels der dort seit Jahren verwendeten Gegenstrom-Verteilungschromatographie (countercurrent chromatography – CCC) meine vielversprechenden Extrakte im Labormaßstab möglichst effektiv und ökonomisch aufzutrennen.
CCC ist trotz seiner enormen Vorteile in der Anwendung noch keine sehr verbreitete chromatograpische Reinigungstechnik. Es kann kostengünstig mit rückgewinnbaren Lösemittelgemischen oder auch sogenannten nachwachsenden green-solvents gearbeitet werden. Vielen brasilianischen Universitäten fehlen die Anlagen, das Training bzw. sachkundiges Personal für den Einsatz dieser Methode. Diese aktuelle, praxisbezogene Forschung leistet einen wichtigen Beitrag zum wissenschaftlichen Austausch zwischen Brasilien und Deutschland.
Unter den schon angedeuteten Vorteilen im Einsatz der CCC zur Naturstoff-Reinigung ist vor allem eine Tatsache von großer Bedeutung: Die gesamte Substanzmenge, die zur präparativen Trennung eingesetzt wurde, kann auch in fraktionierter Form komplett wiedergewonnen werden – ohne dass es zu materiellen Verlusten (Chemisorption) kommen kann. Klassische Festphasen-Chromatographie hingegen u.a. an Kieselgelen zeigt diesen unerwünschten Effekt und kann u.U. zum Verlust der eigentlich gesuchten Bioaktivität im Laufe des Isolierungsprozesses führen.
Zum Projektabschluss im März 2023 habe wir eine vollständige Identifizierung der im Labormaßstab isolierbaren Naturstoffe aus den zur Verfügung stehenden Extrakten von Baccharis sphenophylla nun erreicht. Die weitere Evaluierung dieser Naturstoffe als potentielle Leitstrukturen gegen Trypanosoma cruzi erfolgt nun an dem ausgewiesenen Spezialinstitut für NTDs, dem Adolfo Lutz Institute bei Prof. Dr. André Tempone (São Paulo, Brasilien). Wir hoffen, dass wir dem Ziel – neue innovative, verträgliche und kostengünstige Substanzen zur Therapie der Chagas-Krankheit – etwas nähergekommen sind.
Text: Matheus Lopes Silva, Gerold Jerz