Literatur schafft Wirklichkeit Professorin Julia Schöll zum Projekt „Gegenwartspoetiken – Literatur im öffentlichen Raum“
Wie inszeniert sich Literatur im öffentlichen Raum und wie setzt sie sich mit dem Zustand der Gesellschaft auseinander? Mit diesen Fragen beschäftigt sich das von der VolkswagenStiftung geförderte Projekt „Gegenwartspoetiken – Literatur im öffentlichen Raum“ von Professorin Julia Schöll vom Institut für Germanistik. Welche Texte dabei im Fokus stehen, welche Rolle die Stadt der Zukunft spielt und wann wir uns auf ein Literaturfestival am Campus Nord freuen können, hat Bianca Loschinsky die Literaturwissenschaftlerin gefragt.
Frau Professorin Schöll, was werden Sie in Ihrem neuen Projekt konkret untersuchen?
In unserem Projekt „Gegenwartspoetiken – Literatur im öffentlichen Raum“ geht es darum, welchen Stellenwert Literatur in der Gegenwart und der Gesellschaft hat. Welche Thesen werden in der Literatur über den Zustand unserer Gesellschaft getroffen? Gegenwartsliteratur setzt sich unter anderem mit der Digitalisierung und mit künstlicher Intelligenz auseinander. Es gibt zahlreiche Texte, in denen es um Subjektkonstruktion, Identität, Migration und ethnische Zugehörigkeit geht, oder solche, die sich mit Geschichte beschäftigen und den Spuren, die Geschichte in der Gesellschaft hinterlässt.
Das Projekt befasst sich zudem mit Literatur im öffentlichen Raum, also damit, wie sich Autor*innen inszenieren und wie präsent sie im öffentlichen Raum sind – sei es durch Lesungen oder Poetikprofessuren, aber auch in der virtuellen Realität. So haben zahlreiche Autor*innen ihre eigenen Webseiten, sie bloggen oder posten auf Instagram. Manche, wie Elfriede Jelinek, stellen ganze Texte im Internet frei zur Verfügung, um sich gegen Marktmechanismen zu wehren. Aus diesem riesigen Feld möchte ich in dem Projekt einige Teile beleuchten.
Wenn wir über den öffentlichen Raum sprechen, um welche Räume geht es dann?
Hier geht es tatsächlich um alle öffentlichen Räume. Das Projekt ist Teil des Forschungsschwerpunkts „Stadt der Zukunft“, denn fast überall im städtischen Raum kann man Literatur finden. Angefangen mit der Universität, in der zum einen Literatur als Gegenstand behandelt wird und zum anderen Autor*innen in verschiedensten Veranstaltungsformaten zu Gast sind. Wir haben den großen Bereich des Theaters, in dem Literatur inszeniert wird, und zwar zunehmend auch außerhalb der institutionalisierten Räume, so dass Literatur in die Stadt getragen wird.
Die Grundannahme des Projekts ist, dass Literatur nicht nur das spiegelt, was in der Gesellschaft passiert, sondern dass sie ein ganz wesentlicher Faktor für die Konstruktion dessen ist, was wir Gesellschaft und Raum nennen. Sie konstruiert unsere Realität mit.
Wie kann man das verstehen, Literatur schafft Wirklichkeit?
Ein für die TU interessanter Bereich ist die utopische oder dystopische Literatur, die ganz oft das, was jetzt ist, weiterdenkt. Ich habe zum Beispiel gerade auf einer Tagung einen Vortrag über Juli Zehs Roman „Leere Herzen“ gehalten, den inzwischen einige an unserer Universität durch das Projekt „Eine Uni – ein Buch“ kennen. Dort wird die aktuelle gesellschaftliche Situation weitergedacht und projiziert in das Jahr 2025. Literatur ist seit jeher das Medium des „Was wäre, wenn …“.
Darüber hinaus gibt es einige dystopische Romane, die die Umwelt betreffen. Und natürlich auch Science Fiction. Viele Technikforschende sind Fans von Science Fiction-Romanen, weil sie dadurch inspiriert werden und Literatur Sachen denken kann, die momentan materiell noch nicht vorhanden und nicht verwirklichbar sind, aber vielleicht in der nahen Zukunft.
Literatur beschäftigt sich zugleich auch mit der Vergangenheit, also mit dem, was wir waren und woraus sich ergibt, was wir im Moment sind. Sie führt uns vor Augen, was uns prägt.
Das Projekt „Gegenwartspoetiken“ ist Teil des Forschungsschwerpunkts „Stadt der Zukunft“. Welche Rolle spielt die Literatur in der Stadt und für die Stadt der Zukunft?
Natürlich sind wir nicht die erste und einzige Institution in der Stadt, die versucht Literatur in den öffentlichen Raum zu bringen. Wir haben in Braunschweig das Theater, Literaturhäuser wie das Raabe-Haus, öffentliche Lesungen etc.. Doch ich glaube, dass besonders die Universität als Vermittlerin von Literatur für den städtischen Raum eine sehr große Rolle spielt, weil sie die Brücke zur städtischen Gesellschaft bilden kann. Ein wichtiger Teil unseres Projekts ist ein Outdoor-Literaturfestival auf dem Campus Nord. Hier haben wir uns ganz bewusst dazu entschieden, Kinder- und Jugendbuchliteratur mit einzubeziehen, damit auch Schule einen Raum bekommt. Vor der Pandemie war es viel selbstverständlicher, dass Autor*innen in Schulen gelesen haben.
Mein Anliegen ist außerdem, die städtische Gesellschaft durch das Festival näher an die Universität zu bringen – und mit dem Campus Nord die Menschen zudem an einen Ort einzuladen, an dem sie nicht jeden Tag sind. Damit können wir diesen Raum durch Literatur zu einem entdeckbaren Terrain machen.
Warum sollte es Lesungen überhaupt noch geben, warum sind sie wichtig?
Das könnte man sich natürlich fragen, zumal es die meisten Romane heute auch als Hörbücher gibt. Doch ich glaube, es ist eine einmalige Gelegenheit, gemeinsam vorgelesen zu bekommen. Ich genieße es sehr, wenn ich selbst vorgelesen bekomme. Durch die Lesung erhalte ich von den Autor*innen ihre eigene Interpretation des Textes. Es ist sozusagen ‚Literatur zum Anfassen‘. Im Anschluss an die Lesung kann ich noch mit den Schrifsteller*innen über ihre Texte oder mit anderen Zuhörer*innen darüber diskutieren. Die Lesung ist also ein diskursiver Ort. Wie auch die Poetikprofessur, die wir bislang in Braunschweig hatten, bei der man sich austauscht über das, was man gelesen hat – und zwar unmittelbar und nicht über Blogs oder über Buchbewertungen in Internetshops.
Ich habe im Verlauf meines Lebens als Leserin sehr viele Lesungen gehört und es ist nicht selten der Fall, dass mir Texte, die mich beim eigenen Lesen gar nicht angesprochen haben, durch die Performance plötzlich zugänglich wurden. John Irving ist dafür ein gutes Beispiel. Ich bin kein großer Fan seiner Romane, aber wenn er vorliest, ist das unglaublich! Er ist ein ganz großartiger Vorleser.
Aus vielen Begegnungen mit Autor*innen weiß ich, dass Lesungen auch für sie sehr wertvoll sind, weil sie diese unmittelbaren Reaktionen erhalten, denn das Schreiben ist ein eher einsames Geschäft und manche schreiben Jahre an einem Text. In einer Performance-Gesellschaft sind Lesungen für sie unabdingbar, um wahrgenommen zu werden. Denn die Fülle der Literatur, die publiziert wird, ist inzwischen unüberschaubar. Also müssen sich Autor*innen in diesem Raum positionieren.
Welche Texte stehen im Fokus des Projekts?
Prinzipiell interessiert uns alles, was die Gegenwartsliteratur hergibt. Sehr wichtig ist mir, dass Theatertexte einbezogen werden, die hier auch in Braunschweig inszeniert werden, um diese für Studierende zugänglich zu machen und einen Transferprozess zu leisten. Ich möchte Leute vom Theater, die Texte inszenieren, egal ob historisch oder aktuell, an die Universität holen. Denn auch wenn es ein schon sehr alter Text ist, wie zum Beispiel „Maria Stuart“ von Schiller, entsteht durch die Inszenierung wieder ein neuer Text. Das sind spannende Prozesse, die ich mir gern mit den Studierenden ansehen möchte.
Teil des Projekts soll auch ein Literaturfestival am Campus Nord sein. Können Sie bereits einen Ausblick darauf geben?
Das Festival wird am 24. Juni ab 15 Uhr als Outdoor-Veranstaltung stattfinden. Wir wollen die Literatur als Gelegenheit nutzen, um an der TU Gemeinschaft zu zelebrieren und Leute an den Campus Nord zu locken, der übrigens ein cooler Raum ist! Wir haben hier diese großen Grünflächen und weiter hinten die alten Garagen. Für Festivalstimmung ist auch gesorgt: Es wird einen Foodtruck geben und eine Popcorn-Maschine!
Wer wird zu Gast sein?
Es werden am Nachmittag zwei preisgekrönte Autor*innen der Kinder- und Jugendbuchliteratur lesen, Tamara Bach und Nils Mohl. Am frühen Abend lesen dann Yannic Han Biao Federer und Jenny Erpenbeck aus ihren aktuellen Romanen – also zum einen ein Newcomer, zum anderen eine seit langem etablierte Autorin des gegenwärtigen Literaturbetriebs.
Auch Lesungen für Kinder und Jugendliche einzubinden, war uns bei der Planung wichtig. Zum einen bilden wir zukünftige Lehrkräfte aus, die sich im Studium und in ihrem zukünftigen Berufsleben genau mit dieser Literatur auseinandersetzen. Außerdem wollen wir eine Brücke zu den Schulen und Lehrer*innen bauen. Und natürlich haben viele Kolleg*innen aus allen Fakultäten selbst Kinder, die vielleicht Lust haben, am Freitagnachmittag über das Ringgleis zum Campus Nord zu radeln und sich Literatur anzuhören und mit den Autor*innen zu sprechen. Den Kindern möchten wir gern vermitteln, dass Literatur etwas Lebendiges ist, das nicht im Klassenzimmer stattfindet, sondern auch draußen auf einer Picknickdecke mit einer Tüte Popcorn in der Hand. Wir möchten einen schönen Tag mit Literatur erleben. Und falls es regnen sollte, gehen wir ganz einfach nebenan in den Hörsaal.