17. Februar 2022 | Magazin:

Leben mit Yak-Hirten in Tibet Teil 1: Ankunft in Lhasa und Begegnungen mit Pilger*innen

Auf 4.800 Metern Höhe hat die Doktorandin Siran Liang vom Institut für Geosysteme und Bioindikation (IGeo) der TU Braunschweig vier Monate für ihre Forschung verbracht. Im Rahmen des internationalen DFG-Graduiertenkollegs TransTiP (GRK 2309) hat sie in einem tibetischen Dorf bei einer Yak-Besitzergemeinschaft in Changtang gelebt. Hier untersuchte sie, wie Yak-Hirten den Klimawandel und die mit den Yaks geteilte Welt erleben. Dafür tauchte sie als Ethnographin für längere Zeit in den Alltag der Menschen ein. Teilnehmende Beobachtung oder „Deep Hanging Out“ wird das genannt. In einem Logbuch schreibt sie über ihre Erfahrungen.

Die Doktorandin Siran Liang lebte vier Monate in einem tibetischen Dorf auf 4.800 Metern Höhe. Bildnachweis: Siran Liang/TU Braunschweig

Ich bin Siran Liang, Doktorandin am Institut für Geosysteme und Bioindikation. Herzstück meiner Studie ist eine viermonatige ethnografische Feldforschung in tibetischen Dörfern, die im Juli 2021 begann. Bevor ich zu meinem Feldstandort – dem Changtang-Weideland (auf 4.800 Metern Höhe) – eilte, verbrachte ich zunächst einige Tage in Lhasa (3.600 Meter), um mich an die Höhe zu gewöhnen. Dort besuchte ich verschiedene Klöster, wo ich interessante Pilger*innen traf und begleitete.

Die Altstadt von Lhasa hat einen unverwechselbaren Duft – eine dünne Luft, gemischt mit Weihrauch und Butterlampengeruch. Tibetische Pilger*innen drehen Gebetsmühlen und zählen Gebetsmala in der Hand, während sie das Jokhang-Kloster im Stadtzentrum umrunden.

In den frühen Morgenstunden des Sommers 2021 war in Lhasa besonders viel los. Von den Hotels fuhren Jeeps mit Tourist*innen ab, die sich nach den spektakulären Landschaften des Hochlands sehnten. Und Kurzstreckenbusse brachten Pilger*innen aus ganz Tibet zu den nahegelegenen Klöstern. Zu dieser Zeit waren die Hauptstraßen mit roten Bannern der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) geschmückt, um das 100-jährige Bestehen der KPCh zu feiern.

East Beijing Road, eine Hauptstraße im Stadtzentrum von Lhasa. Bildnachweis: Siran Liang/TU Braunschweig

Ein paar Tage nach meiner Ankunft beschloss ich, das Drepung-Kloster zu besuchen. Buddhistische Pilger*innen können sich durch das Umrunden religiöser Stätten auf der Kora (dem Umrundungsweg) im Uhrzeigersinn religiöse Verdienste erwerben. In der jungen Generation wurde es aber auch als soziale Aktivität immer beliebter. So treffen sich junge Paare auf ein Date zum Kloster umrunden. Als ich meinen Spaziergang auf dem Umrundungsweg begann, ging ein tibetischer Mann leichtfüßig an mir vorbei. Ich beneidete ihn darum. Nach einer Weile sah ich ihn auf einer Mauer sitzen. Ich machte ein Panoramafoto. Auf dem Bild war auch der Mann, seltsamerweise hatte er aber jetzt zwei Köpfe. Ich fand das sehr amüsant und zeigte es ihm. Er lachte und wir begannen, uns auf Tibetisch zu unterhalten.

Ganz selbstverständlich machten wir unseren kleinen Ausflug nach Drepung anschließend gemeinsam. Sein Name war Dondrup. Er war ein Hirte aus einem Dorf in der Nähe von Shigatse, 300 Kilometer westlich von Lhasa. Er war sehr höflich und ein wenig schüchtern. Dondrup sprach sehr leise und manchmal zeigte er mir ein breites Lächeln. Wenn ich sprach, hörte er mir sehr aufmerksam zu. Ich erfuhr, dass er zwei Töchter und etwa 100 Yaks hat. Er war nach Lhasa gekommen, um seine Fahrprüfung abzulegen, da er künftig mehr in Tibet herumreisen möchte. Während unseres Spaziergangs blieb er oft stehen, roch an den Pflanzen und erklärte mir ihre Namen. Es war sein vierter Besuch in Drepung.

Der Pilger Dondrup mit „zwei Köpfen“ auf einem Panoramafoto im Drepung-Kloster. Bildnachweis: Siran Liang/TU Braunschweig

Dondrup durch das Kloster zu folgen, war wie eine Schatzsuche. In einem der Klosterräume gab er mir zum Beispiel eine kleine Plastiktüte und sagte mir, dass wir später etwas besorgen würden. Ich folgte ihm in einen anderen Raum, wo er auf einen Mönch zuging, der in einer Ecke saß. Dondrup verbeugte sich vor dem Mönch. Ohne verbale Verständigung griff der Mönch mit der Hand unter einen Stapel von Sachen, nahm eine Handvoll roter Gerste und gab sie uns beiden. Dondrup sagte mir, dass diese rote Gerste Glück bringen würde.

Einige Tage später nahm ich einen Kurzstreckenbus, der eine Gruppe zufällig zusammengewürfelter Leute von Lhasa zu drei Klöstern brachte: Ganden, Drak Yerpa und Sange. Der Bus war bereits voll, als ich ankam. Um mich mitnehmen zu können, machte der Fahrer aus einem leeren Eimer und einem Kissen einen Sitz für mich. Wenn es eine Vollbremsung gäbe, wäre ich sicher die Erste, die aus dem Fenster geschleudert würde. Außer mir waren alle in dieser Gruppe Pilger*innen. Mit dabei eine große Familie aus der Provinz Qinghai, ein Vater und seine Tochter aus Gannan und ein älteres Ehepaar aus Shigatse.

Das Drak Yerpa-Kloster 16 Kilometer nordöstlich von Lhasa. Bildnachweis: Siran Liang/TU Braunschweig

Unsere Reise begann um 6:45 Uhr morgens, auf dem Weg zu den Klöstern rezitierten die Leute buddhistische Schriften. Alle waren sehr freundlich zu mir und kümmerten sich auf die eine oder andere Weise um mich. Sie begleiteten mich, als ich die Klöster umrundete, und teilten ihr selbst zubereitetes Essen mit mir. Das Kloster Drak Yerpa war besonders beeindruckend, da es in die Felsen gebaut wurde.

„Ich folgte dieser älteren Frau, um die Klöster zu umrunden. Sie lehrte mich, was es zu sehen gibt und wie man heiliges Wasser aus den Bergen trinkt.“ Bildnachweis: Siran Liang/TU Braunschweig

Während des Besuchs fragte mich die Familie aus Qinghai, ob ich verstanden habe, wofür eine ältere Frau  betete. Ich sagte nein. So erklärten sie es mir: „Sie betet nicht für sich selbst. Sie betet für alle Wesen auf der Welt. Es gibt ja nicht nur Menschen auf der Welt. Es gibt viele andere Lebewesen.“

Text: Siran Liang. Der Beitrag wurde im Original auf Englisch geschrieben. Bei der deutschen Version handelt es sich um eine Übersetzung.