Ein Ort der Forschung mitten im Wald TU-Historiker erforscht Geschichte des Forschungsgeländes Braunschweig-Völkenrode
Im Wald bei Braunschweig-Völkenrode wird seit 87 Jahren fast ununterbrochen Wissenschaft betrieben. Von 1936 bis 1945 war hier die Deutsche Forschungsanstalt für Luftfahrtforschung (DFL) untergebracht, die 1938 in Luftfahrforschungsanstalt Hermann Göring umbenannt wurde. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs siedelte sich dann die Forschungsanstalt für Landwirtschaft (FAL) an, aus der sich 2008 das Johann Heinrich von Thünen-Institut entwickelte. Neben dem Thünen-Institut ist auch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) seit 1947 auf dem Gelände ansässig. Die Geschichte der DFL und der FAL erzählt das neu erschienene Buch „Ein Ort der Forschung“ von Daniel Jankowski, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaft. Im Interview berichtet der Historiker von seiner Recherche in Archiven, Verbindungen zur damaligen Technischen Hochschule und warum es sich lohnt, die Geschichte Braunschweiger Forschungsinstitute zu erforschen.
Welche Motivation steckt hinter der Aufarbeitung der Geschichte des Forschungsgeländes in Braunschweig-Völkenrode?
Der Anstoß dazu ging vom Thünen-Institut aus. Die Kolleg*innen dort wünschten sich eine aktualisierte Geschichte des Forschungsgeländes aus geschichtswissenschaftlicher Hand. Daher sind sie dann mit diesem Wunsch auf Prof. Christian Kehrt am Institut für Geschichtswissenschaft zugekommen. Im Rahmen eines Kooperationsprojekts habe ich daraufhin über anderthalb Jahre zur Geschichte des Forschungsgeländes geforscht.
Wie sah Ihre Arbeit an dem Buch aus?
In dem Buch steckt viel Archivarbeit – sowohl digital, als auch vor Ort. Die Arbeit begann Ende 2020 und dauerte das ganze Jahr 2021 an. Sie war also sehr vom Pandemiegeschehen beeinflusst. Ich hatte das große Glück, dass ich trotz Schließung von Bibliotheken und Archiven viele der nötigen Quellen digital einsehen konnten. Einige Quellen lagern aber auch in den USA und Großbritannien und waren nur eingeschränkt digital zugänglich.
Im Sommer 2021 hatten einige Bibliotheken und Archive wieder geöffnet, sodass ich im Archiv der TU München und im Archiv des Deutschen Museums recherchieren konnte. Dort liegen viele Nachlässe von Personen, die hier in Braunschweig in der Luft- oder Landwirtschaftsforschung gearbeitet haben. Nicht zuletzt wurde meine Arbeit auch sehr vom Archiv der TU Braunschweig unterstützt.
Welche Schwerpunkte haben Sie in dem Buch gesetzt?
Das Thünen-Institut hat mir zwei Fragen an die Hand gegeben. Ein besonderes Forschungsinteresse bestand zunächst in der Frage, inwiefern Zwangsarbeiter*innen im Zweiten Weltkrieg zum Aufbau der DFL eingesetzt wurden. Durch eine Quelle ist die Anwesenheit von 85 Zwangsarbeiter*innen auf dem Forschungsgelände belegt. Diese Zahl könnte allerdings zu niedrig sein. Berichte aus umliegenden Ortschaften legen die Vermutung nahe, dass auch Zwangsarbeiter*innen aus nahegelegenen Lagern in der LFA arbeiten mussten. Zudem ist unklar, für welche Tätigkeiten die Zwangsarbeiter*innen in der LFA eingesetzt wurden.
Außerdem bestand ein besonderes Interesse darin, zu untersuchen, wie die beiden Vorläuferinstitute in das beginnende System der Ressortforschung, also von Forschungsarbeit für Ministerien, die auch von diesen finanziert wird, eingeordnet werden können. Anhand dieser Institute lässt sich die Entwicklung dieser Ressortforschung in Deutschland im 20. Jahrhundert nachvollziehen.
Warum sollte man die Geschichte von Forschungsinstitutionen – gerade hier in Braunschweig erforschen?
Ganz allgemein: Weil es eine interessante Geschichte ist! Das Gelände im Nordwesten Braunschweigs ist 480 Hektar groß und durchaus beeindruckend. Da stehen immerhin riesige Gebäude mitten im Wald, die größtenteils ab 1936 für die nationalsozialistische Luftfahrtgroßforschung errichtet wurden. Trotzdem ist es verhältnismäßig unbekannt. Die Forschung an diesem Ort umfasst zudem auch noch einen großen Bereich. Vor Ort haben wir das Beispiel der Luftfahrt- und der Landwirtschaftsforschung, die beide eigentlich nur Überbegriffe sind und sehr viele verschiedene Fachwissenschaften in sich vereinen. In diesem Rahmen sollte zudem nochmal die nationale und internationale Relevanz der Institutionen betont werden, im Rahmen derer hier zwischen 1936 und 1966 Wissenschaft betrieben wurde.
Außerdem gibt es oft personelle Kontinuitäten zwischen der Zeit des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit. Wissenschaftler*innen, die im Nationalsozialismus geforscht haben, haben nach dem Krieg ihre Forschung häufig wiederaufgenommen. Das ist besonders bei Forschungsanstalten im regionalen Kontext interessant, weil die Akteur*innen eventuell auch eine wichtige Rolle in der Stadtgesellschaft spielen konnten.
Woran forschte die Deutsche Forschungsanstalt für Luftfahrt?
Der Zweck der DFL war militärischer Natur. Es wird oft angenommen, dass dort ausschließlich Grundlagenforschung betrieben wurde. Das ist zwar richtig. Diese Grundlagenforschung war aber militärisch relevant. Wenn beispielsweise ein Strahlantrieb für Flugzeuge entwickelt werden soll, dann ist das im Kontext des Zweiten Weltkriegs mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Rüstungsforschung verknüpft. Die innovativsten Projekte der LFA waren essentiell mit den Kriegsplänen verbunden: Beispiele hierfür sind die Pfeilflügelforschung Adolf Busemanns, Otto Lutz und das GM-1 Verfahren zur Leistungssteigerung von Flugmotoren und die Raketenentwicklung Eugen Sänger und Irene Bredts in Trauen, einer Außenstelle der LFA.
Auch an der Technischen Hochschule Braunschweig wurde zur Zeit des Nationalsozialismus Luftfahrtforschung betrieben. Welche Rolle spielte diese Forschung an der TH?
Für die TH spielte diese Forschung eine nicht unwichtige Rolle. Der Luftfahrtforschung wurden im Nationalsozialismus von staatlicher Seite quasi keine finanziellen Grenzen gesetzt. Dementsprechend wird es auch an der TH ein Interesse daran gegeben haben die Forschung auf diesem Gebiet auszubauen. Von Bettina Gundler wurde schon 1995 herausgearbeitet, dass die Luftfahrtwissenschaft und -technik im Rahmen des 1936 neugegründeten Luftfahrtlehrzentrums staatlich enorm gefördert wurde. Obgleich nicht alle Luftfahrtforschungsprojekte an der TH unmittelbar kriegsrelevant waren, konnte insbesondere für die Jahre zwischen 1939 und 1945 eine Konzentration auf Projekte mit Kriegsbezug nachgewiesen werden.
Wie war die Verbindung zwischen der DFL und der damaligen Technischen Hochschule?
Das Luftfahrtlehrzentrum an der Technischen Hochschule wurde zeitlich vor der DFL gegründet und war ein maßgeblicher Faktor für die Ansiedlung der LFA in Braunschweig. Es gab diverse vom Reichsluftfahrtministerium koordinierte kriegswichtige Forschungskooperationen zwischen der TH Braunschweig und der LFA. So arbeitete das Aerodynamische Institut Professor Schlichtings beispielsweise an den Pfeilflügeln mit und führte Untersuchungen zur Prandtlschen Grenzschicht-Theorie durch.
Zudem kam schnell der Gedanke auf, dass man die Institutsleiter der DFL gleich als TH-Professoren mitverpflichten kann. Die Wissenschaftler werden in den Akten der TH als Professoren ab dem Wintersemester 1936 geführt. Es gibt allerdings Schriftverkehr, der belegt, dass sie nie wirklich gelehrt haben. Hermann Blenk, der Präsident der DFL, schreibt selbst von sich, dass er an der TH Vorlesungen gehalten hat. Was wir sicher bestätigen können: Es gab Forschungskooperationen zwischen der TH und der LFA und die Institutsleiter der DFL waren für Professuren an der TH vorgesehen.
Wie gestaltete sich der Übergang von der Luftfahrt- zur Landwirtschaftsforschungsanstalt?
Es gibt einen kurzen zeitlichen Zwischenraum vom Kriegsende 1945 bis zur Gründung der FAL 1947. In dieser Zeit hat dort zwar nicht mehr die Luftfahrtforschungsanstalt existiert, die Luftfahrtforschung in den Gebäuden wurde aber unter Aufsicht der Alliierten fortgeführt. Das endete allerdings recht schnell, weil Forschende ins Ausland gingen und außerdem ein Verbot für motorbetriebene Luftfahrt ausgesprochen wurde. Somit hat irgendwann die Forschung dazu auf dem Gelände aufgehört. Danach dienten die Gebäude vorübergehend als Wohnraum für Menschen, deren Wohnungen durch Bombenangriffe zerstört wurden. Zudem gab es hier sehr viel Baumaterial, das man für andere Zwecke nutzen konnte. Beispielsweise wurden Möbel oder Kochgeschirr mit den vorhandenen Maschinen und Materialien hergestellt.
Wie sah die Forschungsarbeit nach dem Krieg in der Forschungsanstalt für Landwirtschaft aus?
Die FAL wurde im Jahr 1947 als Antwort auf die prekäre ernährungspolitische Situation in Nachkriegsdeutschland gegründet. So wurden hier zunächst die Institute etabliert, von denen man sich die schnellsten und effektivsten Lösungen für den Nahrungsmittelmangel erhoffte. Eines der ersten Forschungsthemen war beispielsweise die Grünlandumwandlung. Dabei ging es darum, dass man ertragsschwache Ackerfläche in Grünland umwandelt, auf dem Nutzvieh weiden kann. Umgekehrt sollte auch Grünfläche, die ertragsstarke Ackerfläche sein könnte, für den Ackerbau genutzt werden. Der Boden in Westdeutschland sollte dementsprechend beurteilt werden, damit man ihn möglichst effizient nutzen kann.
Ihr Buch endet im Jahr 1966. Warum haben Sie dort einen Schnitt gesetzt?
Nachdem die FAL als Anstalt des Landes Niedersachsen gegründet worden war, wurde sie 1966 in den Bundesdienst übernommen. Das war ein großer Einschnitt in der (Selbst-) Wahrnehmung der Forschungsanstalt. Bis dahin hat sich die FAL sehr darüber definiert, dass ihre Forschung relativ frei stattfinden konnte. Mit Übernahme in den Bundesdienst ging die Befürchtung einher, dass diese Freiheit wegfällt. Im Anschluss wurde eine Sonderregelung getroffen, dass die FAL eine Anstalt des öffentlichen Rechts wird, die ihre Forschung selbst bestimmen kann. Heute ist das bei Ressortforschungseinrichtungen in Deutschland die Regel.
Wie geht es jetzt weiter mit Ihrer Forschung?
Ich bin gerade dabei, mein Dissertationsprojekt weiterzuführen. Dort befasse ich mich mit Darstellung und Kommunikation von Umweltschutz durch Plakate im 20. Jahrhundert und baue gerade meinen Quellenkorpus dafür auf.
Durch die Arbeit an dem Buch habe ich allerdings auch gemerkt, dass zur Landwirtschaftswissenschaftsgeschichte im Braunschweiger Land noch viel unerforscht ist. Vielleicht ergibt sich daraus in der Zukunft auch das eine oder andere Projekt.
Vielen Dank für das Interview.