9. September 2024 | Magazin:

Ein aktueller soziologischer Klassiker Fünf Fragen an Dr. Nicole Holzhauser zur heutigen Relevanz des einstigen Braunschweiger Professors Theodor Geiger

„Die Arbeit von Theodor Geiger zeigt, wie wichtig es ist, unsere Geschichte als wissenschaftliche Gemeinschaft zu reflektieren und daraus zu lernen“, sagt Dr. Nicole Holzhauser. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Soziologie und Leiterin des Theodor-Geiger-Archivs hat untersucht, wie der erste Soziologieprofessor an der Technischen Hochschule Braunschweig bereits vor 1933 den Nationalsozialismus systematisch in seine Forschungen einbezog und wie er dies im Rahmen des lokalen politischen Umfeld Braunschweigs tat. Trotz zunehmender politischer Repressionen analysierte er die Dynamiken und Gefahren dieser Bewegung sowie ihre Einbettung in die gesellschaftliche Struktur – in einer auch heute noch aktuellen und relevanten Weise.

Dr. Nicole Holzhauser, Leiterin des Theodor Geiger Archivs. Bildnachweis: Annette Dölger/TU Braunschweig

Sie sind Leiterin des Theodor Geiger Archivs an der TU Braunschweig. Wer war Theodor Geiger?

Theodor Geiger (1891–1952) war ein deutscher Soziologe und der erste Professor für Soziologie an der Technischen Hochschule Braunschweig, unserer heutigen TU. Geiger war ein Pionier in gleich mehreren Teilgebieten der Soziologie, darunter Sozialstrukturanalyse und soziale Mobilitätsforschung, Rechtssoziologie und politische Soziologie. Er war einer der wenigen überhaupt, die sich schon vor 1933 wissenschaftlich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzten und diesen auch ausdrücklich kritisch bewerteten. Eines seiner bekanntesten Werke, „Die soziale Schichtung des deutschen Volkes“ (1932), entstand in einem politisch äußerst angespannten Umfeld, als die NSDAP in Braunschweig bereits bedeutenden Einfluss hatte. In dieser Zeit analysierte er, wie es zum politischen Aufstieg des Nationalsozialismus kam und welche Rolle die Mittelstände dabei spielten. Wie so viele Wissenschaftler*innen auch der TH Braunschweig wurde Geiger 1933 aus dem Amt entlassen. Er floh nach Dänemark, wo er 1938 der erste Soziologieprofessor Skandinaviens wurde.

Darüber hinaus war Geiger eine unglaublich interessante und spannende Person. Er beschäftigte sich nicht nur mit den drängenden Themen seiner Zeit, sondern nahm auch im wissenschaftlichen Diskurs mit seinen Kolleg*innen scheinbar gänzlich unbeeindruckt von Autoritäten kein Blatt vor den Mund. Er war schnell und scharf im Denken, ehrlich in der Kritik und dabei auch noch oft schlichtweg sehr witzig. Bei seinen Studierenden war er mit seiner einnehmenden und humorvollen Art, seiner engagierten und begeisternden Vortragsweise mit vielen nachvollziehbaren Beispielen aus der nicht akademischen Welt, zum Beispiel aus Kriminalromanen, sehr beliebt. Gleichzeitig war er – seinen Schriften nach zu urteilen – von einer seltenen Ernsthaftigkeit und Redlichkeit in der Sache. Er hat die gesellschaftliche Aufgabe, die er den Intellektuellen in der Gesellschaft zugeschrieben hat – Analyse, Kritik und Opposition –, selbst wirklich gelebt. Mit seiner Forschung setzte er sich gegen totalitäre Ideologien und für gesellschaftliche Aufklärung ein. Seine Werke bieten noch heute relevante Erkenntnisse – nicht nur für die Soziologie.

Geiger gilt als der Begründer der Schichtungsanalyse. Was war so bahnbrechend an seinem Werk „Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage“?

Das Buch aus dem Jahre 1932 bot eine erste systematische und empirisch fundierte Analyse der Gesellschaftsschichten in Deutschland. Geiger entwickelte ein fünfgliedriges Schichtungsmodell, das die gesellschaftlichen Strukturen auf der Grundlage von statistischen Daten analysierte und verschiedene Dimensionen sozialer Ungleichheit beleuchtete. Dieses Modell wurde später als Grundlage für die Entwicklung weiterer Schichtungsmodelle verwendet. Besonders hervorzuheben ist seine Analyse der alten und neuen Mittelstände im Kontext des aufkommenden Nationalsozialismus. Geiger identifizierte die Abstiegsängste des alten Mittelstands (wie Handwerker*innen und Kleinunternehmer*innen) und die Abgrenzungsversuche der neuen aufstrebenden Mittelschicht (also zum Beispiel die neuen Angestellten, die sich von den Arbeiter*innen distanzieren wollten) als wesentliche Faktoren für die ersten Erfolge des Nationalsozialismus. Er zeigte, dass diese Gruppen angesichts wirtschaftlicher Unsicherheit und sozialer Desorientierung besonders anfällig für totalitäre Ideologien waren. Später analysierte er dann auch, wie die Sozialdemokratie durch ihre Weigerung, sich in die Mitte der Gesellschaft zu öffnen, indirekt auch zu einem Erstarken des Nationalsozialismus beitrug. Geigers Ansatz, soziale bzw. ökonomische Positionen mit subjektiven Mentalitäten zu verbinden, legte den Grundstein für die moderne Sozialstrukturanalyse und bietet auch heute noch eine wertvolle Perspektive für das Verständnis von sozialen und politischen Entwicklungen.

Sie haben kürzlich eine Publikation über Geigers soziologische Forschung im aufkommenden Faschismus veröffentlicht. Was haben Sie untersucht?

In meinem Aufsatz habe ich die wissenschaftlichen und politischen Bedingungen untersucht, unter denen Geiger seine Arbeiten an der TH Braunschweig entwickelte, insbesondere unter dem Einfluss des aufkommenden Nationalsozialismus. Man kann daran sehen, wie stark die Wissenschaft und die Universität als ihre institutionelle Heimat letztlich von den gesellschaftlichen Bedingungen abhängig sind. Ich habe an Geigers Beispiel soziologiehistorisch nachvollzogen, wie die nationalsozialistische Politik und deren Einflussnahme auf das Bildungssystem das akademische Leben an der Hochschule und mittelbar auch die wissenschaftliche Arbeit drastisch veränderte – und das schon vor 1933.

Geiger befand sich in einer politisch aufgeladenen Atmosphäre, in der die NSDAP im Land Braunschweig bereits ab 1930 als Koalitionspartner agierte und zunehmend Kontrolle über den Bildungssektor ausübte. Die Publikation beleuchtet, wie Geiger trotz einer in Braunschweig schon deutlich spürbaren und auch persönlich nicht mehr zu ignorierenden Drohkulisse kritisch blieb. Obwohl Geiger schon früh die Gefahren, die der Faschismus mit sich bringt, gesehen hat, unterschätzte auch er zu Beginn der 1930er Jahre – wie viele seiner Zeitgenossen – deren tatsächliches Ausmaß.

Warum ist Theodor Geiger heute noch aktuell?

Theodor Geiger bei seinem letzten und einzigen Besuch in Braunschweig nach dem Zweiten Weltkrieg im August 1948. Fotografin: Nelly Friedrichs © Theodor-Geiger-Archiv, Technische Universität Braunschweig

Geiger ist heute aktuell, weil er zentrale Konzepte für die Gesellschaftsanalyse entwickelt hat und die Bedeutsamkeit wissenschaftlicher Methodik und datengestützter Analyse herausstellte. Seine Überlegungen und Konzepte zur „Immunisierung“ der Gesellschaft adressieren zudem zentrale Herausforderungen unserer Zeit.

Die von Geiger entwickelte Idee der „Immunisierung“ zielt darauf ab, die Gesellschaft durch Bildung und Aufklärung widerstandsfähig gegenüber extremistischen und totalitären Ideologien zu machen. In seinem Spätwerk „Demokratie ohne Dogma“ (1953) plädiert er für eine demokratische Gesellschaft, die sich nicht auf starre Ideologien und festgelegte Regularien stützt, sondern wesentlich durch kritisches Denken und intellektuellen Humanismus geprägt ist. Vor dem Hintergrund des Wiedererstarkens populistischer und extremistischer Bewegungen in zahlreichen Ländern, darunter auch in Deutschland, wäre eine solche Immunisierung gegen ideologische Manipulation von ganz besonderer Bedeutung. Geigers Werk verdeutlicht, wie wichtig eine fundierte, allen zugängliche Bildung und die Förderung eines kritischen Bewusstseins für den Erhalt einer offenen und demokratischen Gesellschaft sind.

Geiger ist aber auch aufgrund seiner explizit wissenschaftlichen Methodik von anhaltender Bedeutung für das Fach. Seine Arbeiten zeichnen sich nicht nur durch eine empirische Überprüfung von Hypothesen aus, sondern auch durch eine stringente, theoretisch fundierte Vorgehensweise. Sein Bestreben war es, gesellschaftliche Entwicklungen so zu analysieren, zu erfassen und zu systematisieren, dass es möglich wird, sie sowohl in ihrer Gesamtheit als auch in ihren Details, also auf der Makro- wie auch auf der Mikroebene, zu verstehen. Er kombinierte theoretische Überlegungen mit empirischen Untersuchungen, um ein umfassendes Bild der sozialen Realität zeichnen zu können. Indem Geiger die theoretische und damit verbundene begriffliche Fundierung und die empirische Prüfung miteinander verband, schuf er eine robuste erfahrungswissenschaftliche Methodologie, die auch heute noch als ein Ideal für die sozialwissenschaftliche Forschung dienen kann.

Warum sollten sich Universitäten intensiver mit solchen historischen Persönlichkeiten beschäftigen?

Im Idealfall erfüllen Universitäten die für eine Gesellschaft außerordentlich wichtige Funktion, gesellschaftliche Entwicklungen aus kritischer Distanz zu beobachten, rational zu analysieren und in die Gesellschaft (zurück) zu spiegeln. Die Erfüllung dieser Funktion setzt voraus, dass die Mitglieder der Universität, insbesondere die Hochschullehrer*innen, über die erforderlichen Kompetenzen verfügen. Darüber hinaus ist ein entsprechendes „Mindset“ erforderlich. Das gilt nicht allein für die Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern gerade auch für Natur- und Ingenieurswissenschaften, deren Ergebnisse und Technologieentwicklungen die Gesellschaft in besonderer Weise prägen. Hier können Rollenmodelle wie Geiger – gerade, wenn sie einen lokalen Bezug haben und sich um eine klare und nachvollziehbare Begriffsbildung bemühen – dazu beitragen, sich die genannte Funktion und die damit verbundenen intellektuellen Aufgaben beispielhaft zu vergegenwärtigen.

Geiger zeigt uns, wie wichtig wissenschaftliche Unabhängigkeit, akademische Freiheit und die Rolle der Wissenschaft in politischen Krisenzeiten sind. Wenn wir uns mit seiner Arbeit beschäftigen, verstehen wir besser, was in der Vergangenheit passiert ist und was das mit der Gegenwart zu tun hat. Außerdem können wir von Personen wie ihm lernen, aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen zu meistern und Verantwortung zu übernehmen.