Digitales in der Schule: Großer Wissenssprung durch die Krise Julia Gerick ist neue Professorin am Institut für Erziehungswissenschaft
Einen etwas außergewöhnlichen Start an der Technischen Universität Braunschweig hatte Professorin Julia Gerick. Sie wurde zum 1. April 2020 zur Professorin für „Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Schulentwicklungsforschung“ am Institut für Erziehungswissenschaft ernannt. „Es ging ganz schnell, war aber dennoch feierlich“, erzählt sie im Video-Interview. „Eine Ernennung in diesen Zeiten war auf jeden Fall ein Moment, an den man umso mehr zurückdenken wird.“ Bianca Loschinsky hat mit Professorin Gerick über die Herausforderungen als neue Professorin während der Corona-Pandemie und den Einsatz digitaler Medien in Schulen gesprochen.
Was sind für Sie momentan die besonderen Herausforderungen?
Die größte Herausforderung ist für mich, trotz der Distanz meine neuen Kolleginnen und Kollegen kennenzulernen. Ich hätte mir natürlich gewünscht, vor Ort in den Arbeitsalltag einzusteigen. Auf dem Flur und kurzem Weg die neuen Kolleginnen und Kollegen zu treffen, Kontakte zu knüpfen und direkt loszulegen. Ich habe aber gemerkt, dass es trotzdem ganz gut klappt – per Videokonferenzen, Telefonaten und E-Mail-Korrespondenzen. Ich bin optimistisch, dass ich auch auf diesem Wege gut hineinkommen kann.
Seit 20. April bietet die TU Braunschweig die Lehre mit digitaler Unterstützung – ortsunabhängig und online – an. Wie haben Sie sich auf die Online-Lehre vorbereitet?
Was die Inhalte und Themen angeht, habe ich die Lehre recht normal vorbereitet – so wie auch in der Präsenzlehre. Ich habe allerdings noch einmal geschaut, auf welche Inhalte man möglicherweise verzichten kann und was exemplarisch zur Erreichung der Qualifikationsziele reicht, um die Studierenden, die nun viele Selbstlernphasen haben werden, nicht zu überfordern. Denn was die Lernformen angeht, ist dieses Semester nun mal ganz anders als sonst. Da musste ich auch erstmal schauen, was es hier vor Ort für technische Infrastruktur und Tools gibt und war ganz begeistert, was die TU Braunschweig in kürzester Zeit zur Verfügung gestellt hat.
Seit meinem Start habe ich an diversen Webinaren der Projektgruppe Lehre und Medienbildung teilgenommen, um mich in Stud.IP usw. sowohl technisch als auch didaktisch hineinzudenken. Ich werde eine größere Vorlesung zu Didaktischen Fragestellungen in der Erziehungswissenschaft mit mehr als 400 Teilnehmenden haben. Da musste ich mir natürlich überlegen, wie man diese sinnvoll anbieten kann.
Wie kann die Umsetzung funktionieren?
Es ist aus meiner Sicht unrealistisch, sich auf eine synchrone Art der Kommunikation zusammenzufinden. Ich werde für die Vorlesung Screencasts mit Audio in unterschiedlichen thematischen Blöcken zur Verfügung stellen, das heißt ich vertone Präsentationen mit meinen Erläuterungen. Diese werde ich auf Stud.IP mit zusätzlichen Materialien wie Abbildungen, Links oder Texten sowie Selbsttest-Tools ergänzen, zum Beispiel Quizzes, um das Ganze etwas aufzulockern sowie Frage- und Kommentarfunktionen einzubauen. Damit können wir in Interaktion treten, auch wenn das in Echtzeit leider nicht möglich ist.
Ich denke, es macht keinen Sinn, für das komplette Semester fertige Inhalte hochzuladen. Gerade über die Distanz ist die Begleitung der Studierenden sehr wichtig und auch die Anpassung, wenn etwas nicht so funktioniert, wie man sich das im Home-Office überlegt hatte. Daher ist es mir auch wichtig, regelmäßig Feedback von den Studierenden einzuholen, u.a. dazu, was sie für ihren Lernprozess noch benötigen.
Wie forschen Sie momentan im Home-Office?
Das geht wirklich gut! Was unter anderem daran liegt, dass man in unserem Job sowieso recht gut ortsunabhängig arbeiten kann, wenn man viel schreibt, Daten analysiert und über bestimmte Dinge nachdenkt. Hilfreich ist dafür auch die gute Infrastruktur seitens der Universität, die das ortsunabhängige Arbeiten sehr unterstützt. Ich habe außerdem das Glück, dass ich momentan in meinen Forschungsprojekten nicht in Datenerhebungsphasen bin, sondern entweder in der Planung von neuen Forschungsprojekten, da schreibe ich zum Beispiel Projektanträge und kalkuliere Budgets, oder in der Auswertungsphase, da analysiere und interpretiere ich bereits gesammelte Daten und verschriftliche die Ergebnisse.
In Ihrer Forschung untersuchen Sie den Einsatz digitaler Medien in Schule und Unterricht. Ein Thema, das derzeit hochaktuell ist. Welche Medien können oder sollen genutzt werden? Und ab welchem Alter?
Für mich ist wichtig, die Zielsetzungen des Einsatzes digitaler Medien in der Schule zu unterscheiden. Einmal geht es darum, fachliche Lernprozesse zu unterstützen, beispielsweise mit einer Simulationssoftware im Mathematik-Unterricht. Das andere Ziel ist, das Lernen über digitale Medien zu fördern, also alles rund um das Thema „Medienkompetenz“. Das sind zwei unterschiedliche Zielsetzungen, die auch unterschiedlich angegangen werden müssen. Wenn man sich aktuelle Studienergebnisse zum Umgang mit digitalen Medien ansieht, beispielsweise aus der International Computer and Information Literacy Study (ICILS 2018) dann fällt auf, dass die Schülerinnen und Schüler in Deutschland im internationalen Vergleich mit ihren ‚digitalen‘ Kompetenzen nur im Mittelfeld liegen. Daraus ergibt sich ein großer Handlungsbedarf. Der kritische und kompetente Umgang mit dem Internet, digitalen Informationen und auch Datenschutz muss also zum Thema gemacht werden.
Beim Einsatz von digitalen Medien sollte immer berücksichtigt werden: Pädagogik vor Technik! Nur weil man bestimmte Geräte hat, heißt das nicht, dass man sie ständig und für alles einsetzen muss. Es sollten zunächst die pädagogischen Zielsetzungen für den Unterricht definiert werden und dann kann man überlegen, wie und in welchen Phasen digitale Medien unterstützen können.
Die Schulen werden ab dem 4. Mai wieder schrittweise geöffnet. Wie könnten digitale Medien helfen, Unterricht zu gestalten? Wie kann digitaler Unterricht aussehen?
Die Schulen, die sich bereits vor der Corona-Krise auf den Weg gemacht haben, digitale Medien in der Breite zu verankern, sind klar im Vorteil. Es gibt eine große Bandbreite von Werkzeugen, die man aktuell beobachten kann: Aufgabenversand per E-Mail, Tools zur asynchronen Kommunikation, digitale Tafeln, auf denen man Arbeitsergebnisse gemeinsam zusammentragen kann, Lernplattformen und Cloudlösungen bis hin zu tatsächlich synchronem Unterricht über Videokonferenzen.
Das klingt alles schon ganz gut. Wo aber liegen die Stolpersteine?
Was man immer bedenken muss, ist der Aspekt der Bildungsgerechtigkeit. Inwiefern haben Schülerinnen und Schüler überhaupt Zugang zu digitalen Medien?
Zudem setzt das Selbstlernen bestimmte Kompetenzen voraus, wie selbst das Lernen zu organisieren, sich Ziele zu setzen, Lernpläne zu erstellen und sich im eigenen Lernprozess zu kontrollieren. Das bringen nicht alle Schülerinnen und Schüler mit. Und nicht jeder oder jede hat Eltern zuhause, die in dieser Hinsicht unterstützen können oder wollen.
Immerhin ist es ja eine Ausnahmesituation, eine Krisensituation.
Ja, es ist wichtig, die aktuelle Phase als Ausnahmezustand zu betrachten und nicht den Anspruch zu haben, dass über das Lernen mit digitalen Medien zu Hause ein Unterricht in ähnlicher Qualität stattfinden kann. Das ist aus meiner Sicht gar nicht möglich. Die zentrale Rolle der Lehrpersonen und des schulischen Unterrichts sind nicht zu ersetzen. Digitale Medien können aktuell jedoch helfen, Lernprozesse weiter zu unterstützen.
Diese Ausnahmesituation ist auch eine Chance, zu überlegen, wie es weitergehen kann. Wie können wir Lösungen finden, die über eine Einzellehrer-, vielleicht auch eine Einzelschul-Lösung hinausgeht? Man sollte aus den Erfahrungen, die jetzt gemacht werden, lernen und diese konzeptionell weiterentwickeln. Schulen können von diesem Wissenssprung profitieren.
Können Sie einen Ausblick auf die Schule der Zukunft geben? Wie könnte diese aussehen? Und was muss Schule künftig leisten?
Das ist natürlich eine „Glaskugelfrage“. Das Ziel wird weiterhin sein, Schülerinnen und Schüler auf eine erfolgreiche Teilhabe an der Gesellschaft vorzubereiten. Aber die Wege dorthin werden sich verändern. Gesellschaftliche Bedingungen verändern sich rasant, allein wenn man sich die immer schneller werdende Digitalisierung schaut. Die Zukunft wird immer ungewisser.
Wenn man davon ausgeht, dass Routinetätigkeiten immer mehr von Maschinen übernommen werden können, werden Fähigkeiten wie Kreativität und Problemlösungskompetenz ganz zentrale Kompetenzen, die auch schon in der Schule einen großen Stellenwert einnehmen sollten. Zu weiteren wichtigen Punkten gehören aus meiner Sicht Demokratiebildung und Bildung für eine nachhaltige Entwicklung.
Das sind wichtige Aspekte, die eine Schule der Zukunft im Blick haben sollte. Damit verbunden wären aus meiner Sicht auch Unterrichtsmethoden, die diese Kompetenzen besonders fördern können wie zum Beispiel projektförmiges und kooperatives Lernen, gemeinsames Arbeiten an Lösungen, die Verzahnung von schulischen und außerschulischen Lernorten und forschendes Lernen. In dieser Hinsicht entwickeln sich auch bereits viele Schulen. Nicht zu vergessen ist aber auch die Bearbeitung von Herausforderungen, die leider immer noch nicht bewältigt sind, wie insbesondere der Abbau von Bildungsbenachteiligungen. Das ist und bleibt eine zentrale Aufgabe von Schule.