Die Statik wird dynamisch Professor Roland Wüchner ist neuer Leiter des Instituts für Statik und Dynamik
Wie wird die Statik dynamisch? Was ist Windingenieurwesen? Was ändert sich durch Extremwetterereignisse? Und was ist ein Simulationslabor? Das wollten wir von Professor Roland Wüchner wissen, der das Institut für Statik und Dynamik (ISD) leitet. Er trat am 1. September die Nachfolge des langjährigen Leiters, Professor Dieter Dinkler, an. Bianca Loschinsky und Heiko Jacobs haben Professor Wüchner im Institut an der Beethovenstraße getroffen, das gerade umgebaut wird.
Herr Professor Wüchner, sind Sie gut an der TU Braunschweig angekommen?
Das Kollegium und das gesamte Team vom ISD haben mich wirklich toll empfangen und dafür gesorgt, dass es einen nahtlosen Übergang gab. Es war ein sehr guter Start und wir haben am ISD einen super Team-Spirit. Ich habe auch tolle Unterstützung von meinem Vorgänger Professor Dieter Dinkler bekommen, aber auch durch die Verwaltung. Ein herzliches Dankeschön an alle! Ich fühle mich hier sehr willkommen.
Vorher haben Sie an der TU München geforscht und gelehrt. Warum haben Sie sich für die TU Braunschweig entschieden?
Mit meinem Profil gibt es hier ein sehr interessantes Umfeld. Ich bin Bauingenieur mit Schwerpunkt in der numerischen Simulation, das heißt „Computational Mechanics“. Gerade in dieser Kombination habe ich an der TU Braunschweig ein sehr spannendes Anknüpfungsfeld. Es gibt hier den Studiengang Bauingenieurwesen, ganz klassisch. Aber auch den Studiengang Computational Sciences in Engineering (CSE). Ein internationaler Master-Studiengang, der sehr große Potenziale hat. Die Kombination von modernsten Simulationsverfahren mit den Herausforderungen und Fragestellungen des Bauingenieurwesens ist eine gute Basis, um innovative Lösungen zu generieren.
Im Forschungsschwerpunkt „Stadt der Zukunft“ können wir zum Beispiel Klimawandelfolgen betrachten, hier gibt es ein Riesenbetätigungsfeld für uns Bauingenieur*innen. Wir können uns hier beim Schutz von Menschen einbringen, zum Beispiel durch geeignete Bauweisen oder ein besseres Verständnis der Belastungsszenarien.
Hinzu kommt der Wandel von Infrastruktur und gebauter Umwelt. Wir haben neuartige Materialien, Bauweisen und Herstellprozesse. Hier rückt der Sonderforschungsbereich TRR277 „Additive Manufacturing in Construction (AMC)“ in den Fokus. Es ist ein Teil der Statik- und Dynamik-Mission, sich auch dort mit einzubringen.
Auf der anderen Seite müssen wir uns im Bauwesen auch mit der Alterung von Bauwerken auseinandersetzen. Hier hat sich das Graduiertenkolleg 2075 etabliert, in dem das ISD integriert ist. Die numerische Simulation kann in der Bewertung von Zustandsänderungen unheimlich viel leisten, beispielsweise durch Prognosen und digitale Zwillinge. Das sind die großen Themen, die ich adressieren möchte. Gerade die Kombination Bauingenieurwesen, gesellschaftlich relevante Themenstellungen sowie die Potenziale der Simulations- und Modellierungstechniken sehe ich an der TU Braunschweig sehr gut etabliert.
Unter Ihrem Vorgänger hieß das Institut „Institut für Statik“, mit Ihrem Antritt wurde es in „Institut für Statik und Dynamik“ umbenannt. Statik klingt ja so schön nach Beständigkeit, Unveränderbarkeit, Sicherheit, Gewissheit. Ist das nicht mehr passend in unserer dynamischen Gegenwart, auch wenn sich viele das wünschen?
Ja, wir haben die Widmung ergänzt, aber an den grundsätzlichen Zielen hat sich nichts geändert. Die „Statik“ ist eine traditionelle Marke: Sie forscht und arbeitet daran, abgesicherte Analyse- und Beurteilungsmethoden für Tragstrukturen unter verschiedensten Belastungsszenarien zur Verfügung zu stellen. Das kann auch durchaus mal ein dynamischer Lastfall wie Wind, Erdbeben oder ähnliches sein und dann wird „die Statik“ dynamisch. Die begriffliche Erweiterung der Institutsdenomination sorgt nun für mehr Klarheit nach außen und drückt unmissverständlich das aus, was „die Statik“ schon immer ausmacht: Sie ist das Bindeglied und die zentrale Schnittstelle zwischen den Grundlagendisziplinen und vor allem den konstruktiven Fächern.
Das ISD schöpft sehr stark aus der Tradition der Disziplinen, aber wir schauen auch ganz fokussiert nach vorn. Wir haben heute modernste computerbasierte Simulationsmethoden, um selbst bei komplexen Fragestellungen die Gewissheit der Tragfähigkeit zu gewährleisten.
Sie bringen jetzt wortwörtlich frischen Wind in die Thematik. Windingenieurwesen ist einer Ihrer Forschungsschwerpunkte. Was genau verbirgt sich dahinter?
Dieses Thema beschäftigt mich bereits seit meiner Promotion. Windingenieurwesen ist die rationale Beschreibung der Vorgänge im unteren Bereich der Atmosphäre. Im Fachjargon nennen wir es die atmosphärische Grenzschicht. Dort stehen auch unsere Bauwerke und dort halten wir uns auf. Aus Sicht der Strukturanalyse ist vor allem die Wechselwirkung von natürlicher Windströmung und mechanischem Verhalten der Tragwerke interessant, also ob beispielsweise eine Brücke zu signifikanten, desaströsen Schwingungen angeregt wird oder ein Gebäudedach einem starken Sturm standhalten kann.
Insgesamt ist das Windingenieurwesen eine wahnsinnig interessante, hochgradig interdisziplinäre Disziplin. Man hat eine Bandbreite von der Meteorologie über die Strömungsmechanik bis hin zur Strukturanalyse, wobei die einzelnen Felder stark miteinander verzahnt sind.
Das Windingenieurwesen hat in den vergangenen Jahren noch einmal stark an Bedeutung hinzugewonnen, durch den Trend zu Leichtbau und zu immer größeren Spannweiten. Wir haben eine größere Flexibilität in den Tragwerken, das heißt sie können auch durch den natürlichen Wind zu Verformungen angeregt werden, was man dann als Fluid-Struktur-Interaktion (FSI) bezeichnet. Das möchte ich als einen Schwerpunkt hier am Institut etablieren.
Einerseits haben wir die großen Herausforderungen – leichter Bauen und Extremwetterereignisse – und auf der anderen Seite stehen mit der numerischen Simulation neue Möglichkeiten zur Erfassung der auftretenden Phänomene zur Verfügung. Dies wird in der noch recht jungen Teildisziplin des sogenannten „Computational Wind Engineering“ (CWE) erforscht und umgesetzt und wird ein weiterer Schwerpunkt am ISD. Die computergestützten Untersuchungen im Windingenieurwesen stellen eine deutliche Erweiterung der etablierten Vorgehensweisen dar, wie beispielsweise den klassischen Windkanalversuchen.
Stichwort „Extremwetterereignisse“: Die Veränderungen und Einflüsse durch Alterung, Wetter, Klima etc. waren ja schon immer Bestandteil der statischen Berechnungen, oder?
Ja, schon: Bauwerke mussten schon immer der umgebenden Natur mit den vielfältigen Lastfällen sicher standhalten. Aber die inzwischen zum Teil dominanteren, extremen Lastszenarien, unter anderem infolge des Klimawandels, müssen wir noch mehr einbringen. Eine Pyramide in Ägypten wird sich gegenüber Sturmlasten wenig bewegen, aber bei einer weit gespannten Hängebrücke ist das schon etwas Anderes. Das heißt: Extremwettereignisse und neuartige Bauweisen stellen uns vor neue Aufgaben.
Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir in der Zukunft mit noch heftigeren Strukturreaktionen zu tun haben. Diese neuen Herausforderungen können wir beantworten, indem wir die Potenziale der numerischen Simulation zielgerichtet einsetzen. Heute haben wir eine nie gekannte Möglichkeit an Modellierungstiefe, wie wir Tragwerke und deren Veränderungen erfassen können. Durch Verknüpfung von numerischer Simulation und eingebauter Sensorik könnten wir den digitalen Zwilling für Bauwerke generieren und immer up-to-date halten und somit prädiktive Analysemöglichkeiten zur Verfügung stellen.
Ist Statik gleich Statik? Oder wie müssen Bauingenieur*innen heute ausgebildet werden? Wieviel klassische Grundlagen mit Stift und Taschenrechner werden noch neben den computergestützten mechanischen Berechnungen stehen?
Wir kreisen gerade immer wieder darum, dass wir die enormen Möglichkeiten durch die moderne numerische Simulation oder auch die verfügbare Rechnerhardware in den Ingenieurbüros haben, was in der Tat ein solides Wissen auch in diesem Bereich erforderlich macht und somit in der modernen Statiklehre Eingang finden muss.
In der Praxis diese computergestützten Verfahren einzusetzen, bedeutet, dass ich als Ingenieur großen Sachverstand und hohe Modellierungskompetenz benötige sowie ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein. Man gibt die Verantwortung als Ingenieur*in nicht an den Computer ab. Damit ist es wichtig, neben der methodischen Kompetenz für die Simulationsverfahren auch ein hervorragendes Gefühl für das Tragverhalten von Konstruktionen zu haben. Ich muss also als Ingenieur ein Gefühl dafür haben, wie Konstruktionen Lasten ableiten. Ebenso muss ich die Möglichkeit haben, die Simulationen zu kontrollieren.
Deshalb sind sowohl die computerorientierten Rechenverfahren – gerade mit dem Studiengang CSE –, als auch die klassischen baustatischen Verfahren integraler Bestandteil der Lehre, weil sie einen ganz bestimmten didaktischen Zweck haben. Einerseits können die fertigen Ingenieur*innen damit überschlägige Kontrollrechnungen machen. Andererseits tragen die klassischen baustatischen Verfahren dazu bei, dass die Studierenden ein Verständnis für Kraftfluss und Verformungsverhalten erhalten. Das muss in der Ausbildung bleiben!
Mit welchen weiteren Forschungsschwerpunkten und Projekten werden Sie sich an der TU Braunschweig auseinandersetzen?
Das übergeordnete Leitthema, mit dem ich antrete und in dem ich viele Jahre Forschungserfahrung habe, ist die Beurteilung und Analyse von Tragstrukturen in der Interaktion mit umgebenden Medien, wie beispielsweise Wind oder Wasser.
Hieraus ergeben sich viele Themen in den Bereichen Wind- und Offshore-Engineering, aber auch sehr interessante Forschungsfragen bei der Interaktion von flexiblen Schutzbauwerken mit Steinschlag oder Murgang, ein Erdrutsch im Gebirge. Also Bereiche, in denen man Flexibilität von Strukturen nutzt, um zielgerichtet Schutzwirkung zu erzeugen. All das steht auf der Agenda. Mit Seil- und Membrantragwerken habe ich mich bereits viel beschäftigt. Diese Tragwerke sind von einer extremen Flexibilität geprägt.
Des Weiteren stehen komplementär experimentell-numerische Vorgehensweisen an, die einerseits zur Ergebnisabsicherung, also zu Validierung, notwendig sind, um die physikalische Aussagekraft sicherzustellen. Dazu benötige ich beispielsweise definierte Experimente oder Messungen an realen Strukturen. Auf der anderen Seite ist die Verknüpfung von Experiment und Numerik im Hinblick auf das digitale Zwillings-Konzept spannend. Das wird definitiv am ISD ein Schwerpunkt sein.
Komplexe Simulationsprozesse sind natürlich aufwendig. Mit neuartigen Diskretisierungsverfahren, wie zum Beispiel der isogeometrischen Analyse (kurz IGA genannt), möchte ich den gesamten Untersuchungsablauf effizienter gestalten. Daran arbeite ich schon seit längerem, zum Beispiel an der Integration in die digitale Entwurfskette. Neben IGA stehen auch weitere alternative Diskretisierungstechniken wie z.B. Partikelmethoden auf der Agenda. Damit können wir uns die sinnvollste Methodik – oder Kombinationen davon und mit der FEM – herausgreifen, um die realen Fragestellungen bestmöglich anzugehen.
Was hat Sie dazu bewogen, in diesem Bereich zu forschen?
Ich bin begeisterter Ingenieurwissenschaftler. Die Themen, über die wir jetzt bereits gesprochen haben, finde ich enorm wichtig und ich spüre die Relevanz der Forschungsfragen aus verschiedenen Perspektiven: dass Infrastruktur sicher ist und sicher altert, dass Brücken nicht einstürzen, dass wir größere Belastungen zu erwarten haben. Die Relevanz und Sinnhaftigkeit in diesen Themen motiviert mich sehr und treibt mich voran.
Des Weiteren ist „die Statik“ – und natürlich auch „die Dynamik“ – eine hochgradig interdisziplinäre und vielseitige Disziplin. Sie ist das Bindeglied bzw. Schnittstellendisziplin zwischen den Grundlagenwissenschaften: angewandte Mechanik, numerische Mathematik, die informatischen Disziplinen, konstruktive Ingenieurdisziplinen. Das fasziniert und reizt mich.
Was begeistert Sie an Ihrer Forschung?
Ich finde es beispielsweise sehr motivierend, wenn die erforschten Methoden in der Praxis landen und dadurch auch wieder neue Forschungsimpulse entstehen. Außerdem schätze ich das Arbeiten in großen internationalen und interdisziplinären Teams sehr. Es ist toll, in Netzwerken große Projekte anzugehen. Was ich zudem sehr gern einbringe, ist die Unterstützung junger Wissenschaftler*innen bei ihrer fachlichen sowie menschlichen Weiterentwicklung auf ihrem Weg zur Promotion. Ich freue mich immer sehr über jede abgeschlossene Doktorarbeit! Was mich auch noch sehr fasziniert, ist, Forschungsinhalte in die Lehre zu übertragen, womit die Lehrinhalte immer auf dem Stand der Technik bleiben. Das sind alles Punkte, die mich jeden Tag gern zur Arbeit gehen lassen!
Was macht für Sie gute Lehre aus?
Ich bin inzwischen 20 Jahre in der Hochschullehre tätig. Gute Lehre sollte nachhaltig die entsprechenden Kompetenzen bei den Studierenden etablieren. Dazu muss ich es schaffen, in den Lehrveranstaltungen das tiefe Interesse der Studierenden am Thema zu wecken. Die Studierenden sollen sich aktiv mit den Inhalten auseinandersetzen und nicht nur den Stoff kurzfristig für die Prüfung pauken, damit sie ein echtes und vernetztes Verständnis der Inhalte umsetzen können. Und das ist gar nicht so einfach.
Inhaltlich muss gute Lehre ein großes Spektrum abdecken: Es muss das Handwerkszeug vermittelt werden, damit die Absolvent*innen in der Berufspraxis bestehen können, aber wir müssen auch die vertiefte Kenntnis der methodischen und theoretischen Grundlagen mitgeben. Die Studierenden sollen damit für neuartige Fragestellungen in der Zukunft gewappnet sein, sich hineindenken können und innovative Lösungen finden.
Was möchten Sie den Studierenden mit auf den Weg geben?
Die Studierenden sollen neugierig sein und bleiben und über den Tellerrand schauen. Sich auch im interdisziplinären Denken und Handeln trainieren, aber trotzdem eine eigene Verwurzelung haben. Wichtig sind dabei auch Praktika und Auslandserfahrungen.
Und natürlich kommt der Sprachkompetenz eine hohe Bedeutung zu. Wenn man in größeren Projekten eingebunden sein möchte, kommt man um Englisch nicht herum. Es ist für viele Positionen unabdingbar.
Ich rate, den eigenen Interessen konsequent zu folgen und die Fähigkeiten auch „mal mit einem Kurs mehr als nötig“ weiter zu entwickeln, denn viele Dinge kann man während des Studiums deutlich leichter lernen als später parallel zu einem Job.
Ein Ausblick auf die Zukunft: Was sind Ihre Pläne für das Institut?
Wie Sie bereits gesehen haben, bauen wir gerade im Institut um. Hier auch ein herzlicher Dank an die Fakultät und Hochschulleitung. Wir modernisieren und schaffen eine attraktive Umgebung für eine fruchtbare Arbeitsatmosphäre. Leider verzögert sich der Bau etwas und ich hoffe, dass wir im April/Mai 2022 fertig sein werden.
Was die Institutsarbeit angeht: Ich bin ein bekennender Teamplayer. Denn: Die Themen, die wir jetzt angehen, können nicht allein bewältigt werden. Ich würde gern die Schwerpunkte, die ich erwähnt habe, im Team weiterentwickeln.
Dazu möchte ich gern ein Simulationslabor etablieren, auch zur Vernetzung mit Kolleg*innen hier an der TU Braunschweig und außerhalb, bis hin zu einer gemeinsamen Softwareplattform in Forschung und Lehre. Wir haben hier alle so viele Überlappungen, weil wir an den großen Fragen der Zeit arbeiten. Neben den experimentellen Einrichtungen benötigen wir Wissenschaftler*innen, die sich mit der Simulationsumgebung beschäftigen. Wir brauchen – neben der Hardware – eine leistungsstarke Softwareumgebung, aber natürlich auch Personal: Laborleiter*innen, die die Software beherrschen und warten können.