Die Geschichte des Abfalls Franziska Neumann ist neue Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit
Abfall ist allgegenwärtig, verursacht oftmals Ekel, hat Einfluss auf das eigene Wohlbefinden und die Umwelt. Doch was ist eigentlich Abfall? Und wie hat sich der Umgang damit in den Städten entwickelt? Dazu forscht Franziska Neumann, seit 1. August 2021 neue Juniorprofessorin für Geschichte der Frühen Neuzeit mit Schwerpunkt Urbane Wissenskulturen in vergleichender Perspektive. Im Interview erzählt sie, was Abfall aus historischer Sicht spannend macht, was sie an ihrer Forschung begeistert und was man aus der Geschichte für die Stadt der Zukunft lernen kann.
Frau Neumann, Sie sind Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit mit Schwerpunkt Urbane Wissenskulturen in vergleichender Perspektive. Mit was genau beschäftigen Sie sich?
Ich beschäftige mich mit der Zeit zwischen 1500 und 1800, und zwar mit einem spezifischen Fokus auf Stadtgeschichte. Den Begriff der Wissenskultur verstehe ich dabei weniger als einen festgelegten Gegenstand, sondern als Perspektive auf unterschiedliche Formen der Wissensgenese, -akkumulation, -vermittlung und -nutzung in urbanen Räumen. Die Fokussierung auf die erkenntnistheoretische Dimension städtischer Gesellschaften auch über den engen Bereich der Wissenschaft hinaus (etwa auf dem sozialen, politischen, religiösen und ökonomischen Feld) ermöglicht es, eine Brücke zwischen traditionellen stadtgeschichtlichen Forschungsschwerpunkten, zum Beispiel zur Verfassungsgeschichte, Sozialgeschichte oder Geschichte der politischen Kultur, und neueren kultur-, medien- und sinnesgeschichtlichen Themen und Perspektiven zu schlagen. Das ist in Bezug auf mein aktuelles Forschungsprojekt zu Abfall in London im 18. Jahrhundert von besonderem Interesse: Der Umgang mit Abfall basiert auf historisch variablen Ordnungs- und Klassifizierungssystemen, die eng mit ökonomischem, administrativ-rechtlichem und medizinischem Wissen und kulturellen Vorstellungen verbunden sind.
Dabei ist es notwendig, immer wieder auch den vergleichenden Blick auf Urbanität in globaler Perspektive – von Edo in Japan über Lahore in Pakistan bis London, Amsterdam oder Annaberg – einzunehmen: Was heißt eigentlich Stadt in der Frühen Neuzeit, wenn man die in der deutschen Forschung so prominenten Reichs- und Landstädte in eine globale Perspektive setzt und die Dynamik der Metropolenbildung einbezieht? So kann durch die Perspektive der vergleichenden Stadtgeschichte die spezifisch frühneuzeitliche Dynamik – zwischen Vormoderne und Moderne, zwischen Fremdheit und Vertrautheit – in all ihrer Gebrochenheit und Vielfältigkeit in den Blick genommen werden. Das heißt, mich interessiert ganz generell der Zusammenhang von Stadt und Wissen, deren Besonderheiten sich erst in vergleichender Perspektive untersuchen lassen.
Was hat Sie dazu bewogen, in diesem Bereich zu forschen?
Die Auswahl von Forschungsthemen ist bis zu einem gewissen Maße biografischer Zufall. Ich mag England sehr gerne und hatte große Lust, mich mit dem Land, seiner Geschichte und insbesondere mit London zu beschäftigen. Wenn man nicht nach biografischen Zufällen fragt, dann ist das Verhältnis von Ressourcen, Wissen und Urbanität eine gewisse Konstante meiner bisherigen Forschungen. Meine Dissertation entstand etwa im Rahmen eines DFG-Projekts zur politischen Kultur erzgebirgischer Bergstädte im 16. Jahrhundert, die ich als Kristallisationspunkte administrativen und bergbauspezifischen Wissens untersucht habe. Auch mein aktuelles Forschungsprojekt zu urbanen “Abfallregimen“ verknüpft stadtgeschichtliche Fragestellungen mit wissenshistorischen, umwelthistorischen und kulturgeschichtlichen Konzepten.
Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Abfallgeschichte. Was macht Abfall aus historischer Sicht spannend?
Abfall ist eins dieser Themen, bei denen man scheinbar intuitiv weiß, was das eigentlich ist. Wenngleich jede Gesellschaft irgendeine Art von Rest, seien es Exkremente, Heizreste oder zerbrochenes Geschirr, kannte, verbinden wir das Thema dennoch gerne mit der Gegenwart. Traditionell liegt der Fokus der Abfallgeschichte in der Moderne. Das klassische Narrativ geht ungefähr so: Der demographische Wandel, die Industrialisierung, das Aufkommen einer Konsumgesellschaft und nicht zuletzt veränderte Hygienevorstellungen ließen im 19. Jahrhundert traditionelle, vormoderne Wege der Abfallwirtschaft an ihre Grenzen stoßen.
Der Vormoderne wird in diesem Narrativ zumeist lediglich der Status einer Vorgeschichte zugestanden. Je nach Perspektive wird entweder davon ausgegangen, dass Abfall in der Vormoderne die Ausnahme, die Wiederverwendung hingegen die Regel war. Oder aber diese Epoche wird als dreckige, unhygienische und stinkende Epoche imaginiert.
Stimmen diese Vorstellungen nicht?
Schaut man genauer hin, dann ist dieses liebgewonnene Bild zu grobkörnig: Londons 750.000 Einwohner*innen produzierten im 18. Jahrhundert täglich Unmengen an menschlichen Exkrementen, die vor der Erfindung der Kanalisation irgendwo entsorgt werden mussten. Hinzu kam ein niemals endender Strom an Heizresten. Mit dem Aufkommen neuer Konsumgüter und Luxuswaren veränderten sich auch Gewohnheiten im Umgang mit aus der Mode gekommenen Objekten. Natürlich unterschied sich der Umgang mit Abfall in qualitativer und quantitativer Hinsicht von der Moderne, aber genau das macht es für mich spannend, genauer hinzusehen.
Abfall kann aus dieser Perspektive einerseits als Sonde dienen, um jenseits von etablierten Narrativen ein tiefergehendes Verständnis für die Herausforderungen und Folgen urbanen Zusammenlebens und grundsätzlicher noch für das Funktionieren vormoderner Stadtgesellschaften zu gewinnen. Zugleich kann die historische Perspektive auch Impulse für unsere aktuellen Diskussionen über Abfall liefern, nicht zuletzt, um die historische Vielfalt im Umgang mit Abfallstoffen aufzuzeigen.
Mit welchen Forschungsschwerpunkten und Projekten werden Sie sich an der TU Braunschweig auseinandersetzen?
Ich habe verschiedene Projekte, die ich in den kommenden Jahren an der TU Braunschweig realisieren möchte. Im Mittelpunkt soll vor allem das Themenfeld „Abfall“ stehen. Neben meinen empirischen Forschungen zu urbanen Abfallregimen im 18. Jahrhundert freue ich mich vor allem auf den interepochalen und interdisziplinären Austausch mit verschiedenen Wissenschaftler*innen. Aktuell etwa plane ich zusammen mit einer Kollegin aus York einen internationalen Workshop, wo wir gemeinsam mit Kolleg*innen aus Europa, Hongkong, Indien und Amerika unterschiedliche methodische und empirische Ansätze zum Thema „Ekel“ diskutieren werden.
Darüber hinaus gibt es zahlreiche Schnittstellen zum Forschungsschwerpunkt „Stadt der Zukunft“. Wir sind bereits dabei, in einer kleinen Gruppe von Wissenschaftler*innen ganz unterschiedlicher Disziplinen, vom Wasserbau und der Gewässermorphologie über die Anglistik bis hin zur Geschichtswissenschaft, Abfall als Rest und Ressource in interdisziplinärer Perspektive zu diskutieren. Ich bin gespannt, wie sich diese Diskussionsrunde in Zukunft weiterentwickeln wird.
Daneben möchte ich auch andere Interessen im Rahmen kleinerer Forschungsprojekte weiterverfolgen. Momentan beschäftige ich mich intensiv mit dem Potenzial einer theoriegeleiteten Geschichte vormoderner Organisationen. Ein anderer Forschungsschwerpunkt sind Praktiken der Schriftentzifferung am Beispiel der Keilschrift im 18. Jahrhundert. Auch das ist ein Forschungsstrang, den ich in Zukunft, insbesondere mit Blick auf die herausragenden Bestände der Wolfenbütteler Herzog-August Bibliothek, gerne weiterverfolgen möchte.
Sie forschen auch zur Stadtgeschichte. Was kann man aus der Geschichte für die Stadt der Zukunft lernen?
Die Stadt der Zukunft hat natürlich auch eine Vergangenheit! Aber die Frage, was man eigentlich genau aus einer historischen Perspektive auf Zukunftsthemen lernen kann, ist doch komplizierter. Man kann natürlich sagen: Unmittelbar lernen wir nichts aus der Geschichte. Das Konzept der historia magistra vitae, der Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens, ist mit guten Argumenten seit langem kritisiert worden. Als Historiker*in kann man aber gegenwarts- und zukunftsrelevante Debatten um eine historische Tiefenschärfe bereichern. Die historische Perspektive ermöglicht die Gewinnung reflexiver Distanz und kann damit im besten Fall der Historisierung moderner Selbstverständlichkeiten dienen. Wenngleich Städte sehr unterschiedlich organisiert sind und, um einen Begriff der Stadtsoziologie aufzugreifen, sehr unterschiedliche Eigenlogiken ausbilden, zeigen sich doch wie in einem Prisma die Herausforderungen verdichteten Zusammenlebens.
Zum Beispiel der Umgang mit Abfall?
Mit Blick auf das Abfallthema scheint es mir ungeheuer interessant zu sein, angesichts des drängenden Gegenwartproblems aufzuzeigen, dass unterschiedliche Gesellschaften ein unterschiedliches Problembewusstsein hatten und unterschiedliche Lösungen gefunden haben für drängende Probleme. Dabei geht es nicht um eine schlichte Fortschrittsgeschichte, im Sinne von: Früher saßen alle in ihren eigenen Fäkalien, während wir jetzt die allerbeste Hygiene haben. Sondern der Blick auf die Vergangenheit zeigt die historische und kulturelle Variabilität und auch Relativität des Umgangs mit Abfall in städtischen Gesellschaften. Dieser nuancierte Blick kann im besten Fall helfen, ein differenziertes Verständnis für unsere gegenwärtigen Abfalldiskussionen zu erhalten.
Was war Ihr schönstes Erlebnis als Wissenschaftlerin? Was begeistert Sie an Ihrer Forschung?
An meiner Forschung begeistert mich sehr viel. Mich begeistert die Möglichkeit, meinen eigenen Interessen und Zeitrhythmen zu folgen. Die Möglichkeit, allein und in Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaftler*innen über intellektuell spannende Probleme nachzudenken, ohne immer zwingend zugleich auch deren Relevanz und Verwertbarkeit berücksichtigen zu müssen, empfinde ich als großes Privileg. Zudem bieten mir die Universität und meine Forschungen die Möglichkeit, Dinge zu machen, deren Wert man nicht hoch genug einschätzen kann, zum Beispiel mich drei Wochen in einem einsamen Kloster in der Schweiz, das zugleich auch eine Forschungsbibliothek ist, mit frühneuzeitlichen Drucken zum Bergbau zu beschäftigen, oder ein halbes Jahr in London zu leben, im Archiv zu arbeiten und mit Wissenschaftler*innen aus aller Welt am Institute for Advanced Studies des University College London zu diskutieren. Um es etwas abgedroschen auszudrücken: Ich bin sehr dankbar, auf diese Weise immer wieder meinen Horizont erweitern zu dürfen.
Welche Rolle spielt Wissenschaftskommunikation für Ihre Arbeit?
Wissenschaftskommunikation spielt zunehmend eine große Rolle. Ohne die Gegenwartsrelevanz eines Themas der Vormoderne überstrapazieren zu wollen, sehe ich doch in der Auseinandersetzung mit meinem aktuellen Thema, dass es sehr einfach ist, Anschluss zu finden an aktuelle Debatten. Und dies betrifft nicht nur den begrenzten Bereich der Wissenschaft. Daher finde ich Wissenschaftskommunikation in unterschiedlichen Formaten und Foren interessant. Beispielsweise habe ich vor kurzen im Rahmen des Young Fellow Programms der Akademie der Wissenschaften in Hamburg zusammen mit dem Künstler Simon Schwartz einen Science Comic entwickelt, der mein Thema visualisiert. Wir bereiten gerade eine kleine virtuelle Ausstellung vor, die einen Brücke zwischen Universität und Öffentlichkeit schlagen soll. Diese Möglichkeiten zu nutzen, ist mir zunehmend wichtig geworden.
Was macht für Sie gute Lehre aus?
Das ist eine gute Frage, die sehr einfach wirkt, aber in Wirklichkeit kompliziert ist. Gute Lehre kann durch verschiedene Dinge zustande kommen: Einerseits durch die Vorbildfunktion des Lehrenden in Hinblick auf das Interesse, die Begeisterung und den Enthusiasmus in der Beschäftigung mit einem Thema. Gute Lehre macht aus, die sehr spezialistische Beschäftigung mit sehr kleinen und zugespitzen Themen im Rahmen von Seminaren zurückzubinden an ganz grundsätzliche Fragen darüber, was die Frühe Neuzeit ist, was Geschichte ist und warum man sich mit Geschichte beschäftigen sollte. Gute Lehre macht aber auch die Fähigkeit aus, verschiedene Bedürfnisse von Studierenden zu erkennen und zu berücksichtigen. Manche Studierende brauchen mehr Input, manche weniger, manche brauchen mehr Druck, andere mehr Freiheit. Es gehört zu den großen Herausforderungen der Lehre, die Studierenden ernst zu nehmen und deren unterschiedliche Bedürfnisse zu erkennen. Das heißt eben auch ernst zu nehmen, dass viele Studierende das Studium unter herausfordernden Bedingungen absolvieren.
Was möchten Sie den Studierenden mit auf den Weg geben?
Finden Sie etwas, was Sie begeistert und machen Sie etwas damit! Lassen Sie sich nicht abschrecken von Dingen, die Sie zunächst für langweilig halten! Fast alles, mit dem man sich intensiver beschäftigt, offenbart irgendwann eine Seite, die nicht langweilig ist. Lernen Sie unter Druck zu arbeiten, etwa Deadlines zu akzeptieren, und schaffen Sie sich Freiräume, in denen Sie lernen, sich selber zu organisieren. Lernen Sie, historische Quellen und Texte sehr intensiv zu lesen, aber auch sehr große Textmengen sehr schnell zu rezipieren. Und insgesamt: Machen Sie sich klar, dass das, was Sie hier tun können, nur dann Sinn macht, wenn Sie irgendeine Art von Interesse oder Begeisterung für Themen entwickeln. Das Studium ist sicher nicht nur der Ort, ausschließlich nach den eigenen Interessen zu gehen, aber Sie haben eben auch die Freiheit, ihre eigenen Arbeitsweisen, Themen und Interessen auszuloten.