Dem Tsunami auf der Spur Forscher aus Braunschweig und Ottawa analysieren Schäden in Indonesien
„Die Forschungsvisa für Indonesien erreichten uns kurz vor dem Boarding“, erinnert sich Clemens Krautwald. Zusammen mit seinem kanadischen Kollegen Jacob Stolle reiste er einen Monat nach der Doppelkatastrophe nach Asien. Am 28. September 2018 erschütterte dort ein Erdbeben die Insel Sulawesi. Anschließend zerstörte ein Tsunami Teile der Stadt Palu. Mehr als 2.100 Menschen starben. In der Bucht von Palu dokumentierten die beiden Nachwuchswissenschaftler Schäden. Die Daten sollen Antworten liefern, wie Tsunamis entstehen.
Einfamilienhäuser, meist einfache Unterkünfte aus Holz, waren bis auf das Fundament spurlos verschwunden. Eine Kaimauer: aufgerissen und unterspült. Die Pfeiler, auf der eine kleine Moschee ruhte: weggebrochen. Boote: auf dem Trockenen liegend und ineinander verkeilt. Autowracks, gestrandet in ehemaligen Boutiquen. „Eine teilweise 200 Meter breite Küstenlinie, mit einer vorgelagerten Landgewinnungsfläche von über 18.000 Quadratmeter ging durch einen unterseeischen Hangrutsch verloren“, sagt Clemens Krautwald, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leichtweiß-Institut für Wasserbau der TU Braunschweig. Er hat die Schäden gesehen und dokumentiert – zusammen mit Jacob Stolle von der University of Ottawa in Kanada. Sie suchten nach Antworten auf die Frage: Wie bedingen einzelne Ereignisse wie Hangrutsche und die Überlagerung durch den Erdbeben-Tsunami das Gesamtausmaß dieser Katastrophe?
Um zuverlässige Informationen über den Verlauf zu erfassen, empfiehlt sich eine Datenaufnahme bis spätestens 14 Tage nach einem Ereignis. In Indonesien wurden die ersten Schäden bereits wenige Tage nach der Katastrophe durch Militär und Krisenkräfte beseitigt und die Straßen wieder befahrbar gemacht. Hierdurch wurden viele Spuren verwischt oder gingen ganz verloren. So waren die Wissenschaftler auf die Hilfe der Menschen vor Ort angewiesen. „Die ergänzenden Interviews mit den locals waren extrem wichtig. Nur so konnte unser Team die Ereignisse rekonstruieren, zum Beispiel die Fließrichtung und -tiefe des Wassers“, sagt Jacob Stolle, der seine Doktorarbeit zum Thema Treibgutablagerungen bei extremen Flutereignissen schreibt.
Das japanisch-geführte Forschungsteam hatte weitere Teilnehmer aus Hawaii und Indonesien. Zusammen mit dem Kollegen aus Hawaii begutachteten und vermaßen die beiden von der TU Braunschweig und der Universität Ottawa strukturelle Schäden durch Erdbeben und Tsunami. Die Japaner erfassten die Wellenhöhe an der Küste, die Fließtiefe der Wellen und den maximalen Wasserstand.
Ein weiterer japanischer Kollege analysierte vom Boot aus die Meerestiefen an verschiedenen Stellen in der Bucht von Palu. „Dass wir dabei sein konnten, verdanken wir einer Forschungskooperation mit der Waseda University in Tokio, die wir seit 2014 durch Besuche und gemeinsame Veröffentlichungen pflegen“, sagt Professor Nils Goseberg vom Leichtweiß-Institut, Abteilung Hydromechanik und Küsteningenieurwesen. Man müsse wissen, für Japaner sei es eher unüblich, so viele Nationalitäten auf eine Mission mitzunehmen. „Das funktioniert nur mit Vertrauen“, so Professor Goseberg.
Bodenverflüssigung, Treibgutaufprall und Bodenaustrag
Drei Aspekte standen bei der Reise durch die Bucht im Vordergrund: Die Wirkung von Bodenverflüssigung (Liquefaction), Treibgutaufprall (Debris impact) und von Bodenaustrag (Scouring). Beim Scouring bleibt ein Gebäude bzw. seine Ständerkonstruktion im Großen und Ganzen stehen, allerdings auf sehr wackligen Füßen. Es droht Einsturzgefahr, denn die Wassermassen unterspülen Mauern und legen Fundamente frei. Beim Treibgutaufprall werden Objekte vom Wasser an einem Ort aufgegriffen und zum anderen getragen, prallen dabei immer wieder mit voller Wucht gegen andere Gegenstände und Gebäude. Das können Autowracks sein, deren Abprallspuren dokumentiert werden, aber auch herausgerissene Asphaltplatten, die unter der Wasseroberfläche der Welle mit gespült werden.
Aber was kann man sich unter Bodenverflüssigung vorstellen? „Der Boden verliert durch Schwingungen des Erdbebens seinen festen Aggregatzustand. Mit Wasser gesättigte Erde und Schlamm wirken bei Vibrationen wie eine Flüssigkeit“, erklärt Krautwald. Häuser, Straßen und Autos verlieren den Halt und versinken im Boden. Allein im Stadtteil Balaroa sollen 1.700 Häuser regelrecht verschluckt worden sein – ein Stadtteil, der rund zwei Kilometer von der Küste entfernt liegt.
Derzeit zeigt sich folgendes Bild: Das Erdbeben mit einer Stärke von 7,5 auf der Momenten-Magnituden-Skala gilt als schweres Erdbeben. Das Epizentrum lag etwa 80 Kilometer nördlich der Stadt Palu. Das Beben löste mehrere Hangrutsche im Meer zu unterschiedlichen Zeitpunkten aus, die dann die Tsunamibildung zusammen mit der Erdbebenanregung in Gang setzten. Experten gehen von drei sukzessiven Wellen aus. Die Flutwelle erreichte Höhen von bis zu neun Metern über dem Ruhewasserspiegel. Über 2.100 Menschen starben, über 14.000 Menschen wurden verletzt, Tausende werden vermisst.
Ein nach 2004 durch finanzielle Hilfe der deutschen Bundesregierung installiertes Frühwarnsystem in Indonesien ist für diese Art von Tsunamis mit kurzen Vorwarnzeiten nicht ausgelegt. Eine Warnung durch das System kann nur für rein Erdbeben-induzierte Tsunamis effektiv erfolgen. Die Menschen von Palu hatten nach dem Ende des Bebens lediglich drei bis sechs Minuten Zeit für die Evakuierung in höher gelegene Bereiche. Bei der Wellenerzeugung durch Hangrutsche und das kurz vorher stattgefundene Erdbeben kam es zur Überlagerung von Prozessen. „Es ist so komplex, weil alles zu unterschiedlichen Zeiten passiert ist“, so Professor Goseberg. „Und genau das wollen wir genauer untersuchen.“
Für die beiden Nachwuchswissenschaftler aus Braunschweig waren die vier Tage auf Sulawesi eine gute Gelegenheit, den Kontakt zu den Japanern zu intensivieren und weitere wissenschaftliche Erfahrungen zu machen. Ausgehend von Ihren Beobachtungen vor Ort lassen sich auf jeden Fall neue dringende Forschungsfragen ableiten.