Auf den Spuren von Henri Bergson in Paris Forschungsstipendium der Humboldt-Stiftung für Dr. Tobias Endres
Dr. Tobias Endres, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Braunschweig, erhält das begehrte Feodor Lynen-Forschungsstipendium für Postdocs der Alexander von Humboldt-Stiftung. Damit wird er in Paris für zwei Jahre von April 2024 bis März 2026 an der École normale supérieure (ENS) zur Philosophie des Literaturnobelpreisträgers Henri Bergson forschen. Dr. Endres ist seit 2018 in der Abteilung von Professorin Nicole C. Karafyllis tätig und arbeitet dort zu den Ursprüngen der Lebensphilosophie in der Sprachphilosophie und im Kontext deutsch-französischer Kulturtransfers. Im Interview erzählt er, um was es genau in seinem Forschungsprojekt geht und welche Kooperationen er in Paris geplant hat, um die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich zu stärken.
Herzlichen Glückwunsch zum Feodor Lynen-Forschungsstipendium, Herr Dr. Endres! Haben Sie bereits an der TU Braunschweig zur Philosophie Henri Bergsons gearbeitet? Was hat Sie bewogen, sein Werk zu erforschen?
Ja, die Braunschweiger Studierenden kamen schon in den Genuss von mehreren Lehrveranstaltungen zu Henri Bergson, die ich als philosophische Werkstatt genutzt habe. Das hiesige Institut für Philosophie hat mit Professorin Nicole C. Karafyllis einen Schwerpunkt in der Lebens- und Technikphilosophie, weshalb ich 2018 nach meiner Promotion an der TU Berlin hierhin gewechselt bin. Ich wollte aus der Kulturphilosophie heraus systematisch Neuland betreten, aber meinem philosophiehistorischen Schwerpunkt des Langen 19. Jahrhunderts treu bleiben. Dass ich nun maßgeblich zum Literaturnobelpreisträger und Lebensphilosophen Bergson arbeite, hat sich hier entwickelt: aus der Beobachtung des unzureichenden deutschsprachigen Forschungsstands gemessen an der großen Bedeutung Bergsons, aber auch aus den Gesprächen mit den Kolleg*innen. Bergson ist ein moderner, richtungsweisender Philosoph: Gegen das Gerede von Degeneration und Dekadenz um 1900 betont Bergson das Schöpferische, das evolutive Potenzial des Lebens und der Technik.
Welche Erwartungen haben Sie an Ihre Forschungszeit in Paris?
Ich habe sehr hohe Erwartungen an meinen Forschungsaufenthalt, weil ich an der École normale supérieure nun Zugriff auf den Nachlass Bergsons erhalte, aus dem mich besonders die sprachphilosophischen Schriften interessieren. Aber auch gesellschaftspolitisch freue ich mich darauf, einen kleinen Beitrag zur deutsch-französischen Partnerschaft zu leisten. Sie ist ein Motor der europäischen Idee, angefangen von einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, über gemeinsame Luft- und Raumfahrtprojekte bis zu Kulturinstituten und -projekten wie dem gemeinsamen TV-Sender arte. In meinem Forschungsprojekt geht es um den direkten Kulturtransfer zwischen Deutschland und Frankreich. Meine Hypothese ist, dass Bergson stärker als bislang belegt durch die deutschsprachige Philosophie geprägt wurde. Ich denke hier in erster Linie an Friedrich Nietzsche, dessen Denken hier an der TU Braunschweig von den Experten Professor Matthias Steinbach und Professor Claus-Artur Scheier untersucht wird. Von mir selbst erscheint ein kleines Buch zu Nietzsche im Sommer, was auch als Vorarbeit zum jetzigen Forschungsprojekt gelesen werden kann.
Inwiefern wird das Stipendium Ihre Forschung vorantreiben?
Für meine Habilitation an der TU Braunschweig benötige ich Quellen und Kontexte, die ich nur in Paris erhalten kann. Bergson lehrte ab 1898 als Professor an der École normale supérieure, wo sich noch heute seine Privatbibliothek sowie handschriftlich hinterlassene Vorlesungen befinden. Hier möchte ich die Archivsituation kennenlernen und fachsprachliche Ausdrücke auf Französisch im Dialog mit Ansprechpartner*innen in Bergsons Muttersprache erlernen. Außerdem möchte ich der französischen Debattenkultur begegnen, gerade in meinem debattierfreudigen Fach Philosophie. Nicht zuletzt öffnet ein Auslandsaufenthalt als Postdoc so auch einen weiteren Arbeitsmarkt, was wiederum die Chancen auf eine spätere Berufung in Deutschland steigen lässt.
Welche Kooperationen mit anderen Forschenden und Einrichtungen in Paris sind geplant?
Mit meiner Gastgeberin Dr. Caterina Zanfi vom Centre national de la recherche scientifique (CNRS) habe ich die Ausrichtung von zwei Forschungsateliers am Gastinstitut Pays Germaniques an der École normale supérieure geplant. Dort forschen derzeit mehr als 30 Historiker*innen, Literaturwissenschaftler*innen und Philosoph*innen unter dem Paradigma der „regards croisés“ (Blickwechsel) zu deutsch-französischen Themen. Darüber hinaus habe ich bereits Kontakte zu Forschenden am Institut Marcel Mauss geknüpft, wo eine Forschergruppe zu Themen der Linguistik, Anthropologie und Soziolinguistik arbeitet, was Synergien bei der Bearbeitung systematischer Fragestellungen über die Bergson-Forschung hinaus erwarten lässt.
Wie denken Sie, wird die internationale Zusammenarbeit Ihre Forschung bereichern?
Es ist einerseits absehbar, dass das Heraustreten auf internationales Parkett die eigene Forschung stärkt und vor allem auch eine Bereicherung für das Heimatinstitut darstellt. Als Philosoph muss ich aber auch darauf hinweisen, dass man vorab nicht wissen kann, wie solch ein Aufenthalt die Forschung bereichern wird. (lacht) Auf jeden Fall freue ich mich darauf, dies mit den Kolleg*innen herauszufinden und davon zu berichten, wenn am 15. November dieses Jahres das Braunschweiger Institut für Philosophie seinen 100. Geburtstag feiert.