30. Mai 2017 | Magazin:

50 Jahre Mehrwertsteuer – ein Meilenstein der Europäischen Integration Gastbeitrag von Professor Christian Leßmann

Die Mehrwertsteuer ist mit einem jährlichen Aufkommen von rund 200 Milliarden Euro die bedeutendste Einnahmequelle des Staates und macht etwa ein Drittel aller Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden aus. Am 29. Mai 1967 wurde ein neues Umsatzsteuergesetz verabschiedet, das den Übergang von einer Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer zu einer Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug markiert. Hinter den technisch anmutenden Begriffen verbirgt sich nichts weniger als ein Meilenstein der Europäischen Integration.

Prof. Dr. Christian Leßmann vom Institut für Volkswirtschaftslehre der Technische Universität Braunschweig. (Foto: privat)

Prof. Dr. Christian Leßmann vom Institut für Volkswirtschaftslehre der Technische Universität Braunschweig. (Foto: privat)

Umsatzsteuern gibt es in Europa bereits seit mehreren Jahrhunderten, so dass die Mehrwertsteuer als besondere Ausprägung der Umsatzsteuer an sich nichts Neues ist. Die klassische Umsatzsteuer wurde jedoch auf den Bruttoumsatz jeder Produktions- und Handelsstufe erhoben. Wird eine Ware oder Dienstleistung mehrfach ein- und wieder verkauft, dann stieg die Steuerbelastung mit jeder Transaktion. In einer modernen, arbeitsteiligen Ökonomie ist das problematisch, da die Steuerbelastung eines Unternehmens dann davon abhängt, wie hoch die Fertigungstiefe ist. Sind alle Fertigungsschritte – von der Rohstoffförderung bis zum Endprodukt – in dem einzelnen Unternehmen angesiedelt, dann ist die effektive Steuerbelastung relativ niedrig. Werden hingegen einzelnen Vorprodukte, Komponenten und Produktionsmittel von verschiedenen Unternehmen produziert und zugekauft, dann fiel nach dem alten Modell auch mehrfach Umsatzsteuer an. Die effektive Steuerbelastung des Endprodukts steigt dann mit zunehmender Arbeitsteilung.

Die mit der heutigen Mehrwehrsteuer verbundene Möglichkeit des Vorsteuerabzugs neutralisiert diese Verzerrung. Jeder Einkauf von Vorprodukten berechtigt ein Unternehmen zum Vorsteuerabzug. Wird dann das ggf. weiterverarbeitete Produkt veräußert, wird dieser Betrag der beim Verkauf entstehenden Umsatzsteuerschuld gegengerechnet. Damit wird erreicht, dass nur der auf einer Produktionsstufe entstandene Mehrwert der Umsatzsteuer unterliegt. Es ist nun irrelevant, wie viele Unternehmen bei der Herstellung eines Produkts beteiligt sind.

Für die wirtschaftliche Integration der Europäischen Union ist die Schaffung einer harmonisierten Mehrwertsteuer nach diesen Grundprinzipien von sehr großer Bedeutung. Vorprodukte, die in dem einen Mitgliedstaat hergestellt werden, können so in einem anderen weiterverarbeitet werden, ohne dass dies die Steuerbelastung erhöht. Im grenzüberschreitenden Warenverkehr sind daher alle Lieferungen an gewerbliche Kunden steuerfrei. Die Umsatzsteuer wird dann nur auf der letzten Stufe fällig, also beim Verkauf an den Endverbraucher in dem jeweiligen Mitgliedstaat. Dies erlaubt, bestimmte Fertigungsschritte auszulagern und sich auf andere zu spezialisieren. Dadurch wachsen Produktivität und Wohlstand in der EU, und die gegenseitige Zusammenarbeit wird gestärkt. Beides sind sehr wichtige Elemente im europäischen Integrationsprozess.