Welche Gefahren bergen industrielle Altlasten im Permafrost? Forschungsteam untersucht Umweltrisiken durch Bohrschlammgruben im kanadischen Mackenzie-Delta
In den arktischen Permafrostgebieten schlummern an tausenden Standorten zum Teil hochgiftige Industrieabfälle. Diese drohen Ökosysteme und die lokale Bevölkerung zu gefährden, wenn der Dauerfrostboden durch die massive Erwärmung der Arktis zunehmend tiefer auftauen und instabil wird. Im August nehmen Forschende vom Alfred-Wegener-Institut und der Technischen Universität Braunschweig zusammen mit weiteren nationalen und internationalen Partnern daher Schlammgruben im Mackenzie-Delta unter die Lupe, in denen Rückstände aus Öl- und Gasexplorationen lagern. Die Expedition ist Teil des Verbundprojektes „ThinIce“ (Thawing industrial legacies in the Arctic – a threat to permafrost ecosystems), das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 1,9 Millionen Euro gefördert wird. Ziel des Projekts ist es, das Ausbreitungsrisiko der Altlasten und mögliche Umweltfolgen zu erfassen sowie Strategien für eine Risikominimierung zu entwickeln.
Dauerhaft gefrorenen und stellenweise mehrere hundert Meter mächtig: Permafrostböden, die nur im Sommer oberflächlich auftauen, galten lange Zeit nicht nur als stabiles Fundament für Häuser oder industrielle Infrastruktur, sondern auch als unüberwindbare Barriere für feste und flüssige Stoffe. Entsprechend sorglos wurden in den vergangenen Jahrzehnten in den Permafrostgebieten der Arktis vielerorts Industrieabfälle in Gruben, auf Halden oder in geschlossenen Seen entsorgt, von schwermetallhaltigen Bergbauabfällen über giftige Bohrschlämme bis hin zu radioaktivem Müll. Doch der Klimawandel, der im hohen Norden zwei- bis viermal so schnell voranschreitet wie im globalen Mittel, lässt den Boden immer tiefer tauen: Er wird instabil und durchlässiger. Somit könnten Altlasten sich in der Umwelt ausbreiten und empfindliche Ökosysteme kontaminieren, welche auch Lebensgrundlage vieler Menschen sind.
Anfang August reiste ein Expeditionsteam unter der Leitung des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) ins Mackenzie-Delta im Nordwesten von Kanada – eine Gegend, die sich seit 1940 um 0,3 Grad Celsius pro Jahrzehnt erwärmt hat. Dort wollen die Forschenden untersuchen, welche Gefahr von mehr als 200 Bohrschlammgruben ausgeht. An dem Forschungsprojekt ThinIce sind unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts auch die TU Braunschweig, die Leibniz Universität Hannover und die RWTH Aachen beteiligt. Das Forschungsteam arbeitet dabei eng mit kanadischen Wissenschaftler*innen, regionalen Behörden und der Landesverwaltung der Inuvialuit Gemeinschaften zusammen.
Auswirkungen von Klimaänderungen
„Wir wurden hier mit dem neuen August-Temperaturrekord von 35 Grad in Inuvik, nördlich des Polarkreises, begrüßt, wobei die höchsten Temperaturen erst in den Abendstunden erreicht werden. Das hätte ich so nicht erwartet, aber die Arktis ist auch Neuland für mich“, berichtet Professorin Antje Schwalb vom Institut für Geosysteme und Bioindikation der TU Braunschweig. Gemeinsam mit Doktorandin Emma Cameron nimmt sie an der Expedition teil. Im Fokus ihres Teilprojekts stehen die Auswirkungen von Klimaänderungen und möglicher Austritte von Bohrfluiden auf die lokalen Wasser-Ökosysteme. Ziel der Forscherinnen ist es, das regionale Ausmaß dieser Veränderungen zu erfassen, stark bedrohte Arten zu identifizieren und besonders gefährdete Gebiete auszuweisen. Dazu analysieren sie Wasser- und Sedimentproben. Als Bioindikatoren nutzen sie Organismen wie Chironomiden, Diatomeen, Ostrakoden und Thekamöben, deren fossile Überreste in den Sedimenten erhalten geblieben sind. Diese Untersuchungen sollen die Entwicklung der Klima- und Umweltveränderungen der vergangenen rund 50 Jahre erfassen und Referenzzustände für die Gewässer ermitteln.
Dieses Wissen ist zum einen für die indigene Bevölkerung im Mackenzie-Delta relevant, da sich viele der kontaminierten Standorte in der Nähe von Siedlungen oder in Jagd- und Fischereigebieten befinden. Zum anderen könnten Erkenntnisse zur Freisetzung giftiger Substanzen aus kontaminierten Permafrostböden auch bei der Suche nach Lösungen für das Problem der Altlasten in anderen Regionen der Arktis helfen. „Die Inuvialuit haben uns sehr offen empfangen. Sie sind sehr an einer unabhängigen Bewertung des Gefährdungspotenzials interessiert“, so Professorin Schwalb.
Die Ergebnisse aus dem Projekt sollen als Grundlage dienen, um zusammen mit den lokalen Partnern Strategien zu erarbeiten, die das Risiko durch austretende kontaminierte Bohrfluide minimieren.