Rückstände von verglühten Satelliten könnten Ozonschicht zerstören Leonard Schulz im Interview über Satellitenschrott und Auswirkungen auf die Atmosphäre
Es ist wie ein neuer Wettlauf ums All: Um die Welt mit schnellerem Internet zu vernetzen, planen immer mehr Unternehmen, jährlich zahlreiche Satelliten in Form von Megakonstellationen ins All zu schießen. Bisher nur unzureichend beachtet sind die Folgen für unsere Atmosphäre. Leonard Schulz ist Doktorand am Institut für Geophysik und extraterrestrische Physik an der Technischen Universität Braunschweig und möchte gemeinsam mit Professor Karl-Heinz Glaßmeier diese Forschungslücke schließen. Im Interview spricht Schulz über eine neue Forschungsrichtung und über Gefahren für die Ozonschicht.
Welche Probleme werden durch Weltraumschrott verursacht? Welche davon haben Sie untersucht?
Wenn es um Weltraumschrott geht, gibt es praktisch drei Problemebenen. Erstens gibt es das Orbitproblem. Der Orbit ist die Umlaufbahn eines Satelliten um einen größeren Himmelskörper. Wenn Satelliten im Orbit kollidieren bzw. beschädigt werden, können ganze Orbits durch Kettenreaktionen unbrauchbar werden. Deshalb muss das Material entsorgt werden. Dafür gibt es zum einen sogenannte Friedhofsorbits, z. B. weit entfernte geostationäre Orbits, auf die man die zu entsorgenden Satelliten schießen kann. Im erdnahen Orbit ist diese Option jedoch nicht anwendbar, da alle erreichbaren Orbits bereits zu voll sind. Die einzige Alternative besteht darin, die Satelliten wieder in die Atmosphäre eintreten zu lassen, was aber weitere Probleme mit sich bringt.
Zum zweiten gibt es das Bodenproblem, also dass wiedereintretende Teile auf bewohnte Gebiete treffen und uns auf den Kopf fallen könnten. Um das zu vermeiden, versucht man, Satelliten möglichst gezielt in der Atmosphäre verglühen zu lassen oder sie in unbewohnten Meeresgebieten zu versenken. Für die beiden eben genannten Probleme gibt es genaue Untersuchungen und Regularien. Die Unternehmen müssen aufpassen, dass uns nichts auf den Kopf fällt und die Satelliten nicht unkontrolliert im Orbit bleiben.
Drittens gibt es noch das Atmosphärenproblem. Wenn das Material verglüht, verschwindet es nicht, sondern es verbleiben Rückstände in der Atmosphäre. Welche Auswirkungen diese auf die Atmosphäre haben und wie groß der Anteil eigentlich ist, der in der Atmosphäre bleibt, ist bisher kaum erforscht. Das haben Professor Glaßmeier und ich zum Anlass für unsere Forschungsarbeiten genommen und damit quasi eine neue Forschungsrichtung mitbegründet.
Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Zunächst ging es uns darum, das eintretende Material zu analysieren und zu vergleichen, wie groß der Anteil des anthropogenen (menschengemachten) Materials, das in die Atmosphäre eingebracht wird und dort verbleibt, im Verhältnis zum natürlichen Material ist. Zum natürlichen Material gehören Meteoroide, also Staubteilchen und größere Gesteinsbrocken aus dem Sonnensystem, die beim Eintritt in die Atmosphäre verglühen, beispielsweise in Form von Sternschnuppen. Bisher gingen die Expert*innen immer davon aus, dass der menschengemachte Anteil im Verhältnis zum natürlichen Material so gering ist, dass er vernachlässigt werden kann. Wir haben aber bei unseren ersten Berechnungen festgestellt, dass dieser Anteil doch einige Prozentpunkte ausmacht.
In einem Paper konnten wir zeigen, dass im Jahr 2019 die anthropogene Masse, die in die Atmosphäre gelangt und dort verbleibt, im Vergleich zur natürlichen Masse bei drei Prozent lag. Auf 100 Kilogramm natürliche Masse kommen also drei Kilogramm anthropogene Masse. Das klingt erst einmal nicht viel, ist aber auch nicht zu vernachlässigen. Und man muss bedenken: Das war 2019. Seitdem hat sich in der Raumfahrt unglaublich viel getan.
Allein das vom US-Raumfahrtunternehmen SpaceX betriebene Satellitennetzwerk Starlink hat in den letzten fünf Jahren 6.000 Satelliten ins All gebracht – das sind Megakonstellationen, die man lange Zeit nicht für möglich gehalten hat. Diese neuen Entwicklungen haben wir zum Anlass genommen, Zukunftsszenarien zu erstellen. Wenn 10.000 Satelliten mit einer Lebensdauer von fünf Jahren regelmäßig in den Weltraum geschossen werden, dann bedeutet das, dass praktisch alle fünf Jahre 10.000 Satelliten in die Erdatmosphäre eintreten und verglühen. Rechnet man das hoch, liegt der Anteil an anthropogenem Material in der Atmosphäre nicht mehr bei „nur“ drei Prozent, sondern im schlimmsten Fall bei 40 Prozent. Wenn man nur Metalle betrachtet, die im Verhältnis viel häufiger in anthropogenem Material vorkommen als in Meteoroiden bzw. einen viel größeren Massenanteil haben, dann sind wir in unserem Worst-Case-Szenario schon fast bei der gleichen Injektion, bei 90 Prozent. Beim Aluminium bringen wir schon jetzt sogar mehr anthropogene Masse in die Atmosphäre ein als durch Meteoroiden. Das alles zeigt, dass der menschgemachte Anteil signifikant ist und nicht vernachlässigt werden darf.
Jetzt sind diese Zahlen ja Schätzungen. Wie realistisch ist es, dass diese mit der Realität übereinstimmen?
Grundsätzlich gibt es bei solchen Abschätzungen natürlich Unsicherheiten. Unsere Zahlen sind aber im letzten Jahr durch Beobachtungen von Kolleg*innen aus den USA bestätigt worden. Diese haben in der Nähe des Nordpols Staubpartikel in der unteren Atmosphärenschicht, der Stratosphäre, aufgefangen und mit einem Massenspektrometer untersucht. Aufgrund atmosphärischer Strömungen ist es im Winter am Nordpol möglich, auch Informationen über höhere atmosphärische Schichten zu erhalten. Bei eben diesen Untersuchungen wurde durch Zufall festgestellt, dass ein signifikanter Anteil der Staubpartikel von Satellitenrückständen oder ähnlichem stammt, also menschengemacht ist. Bei Aluminium waren es zum Beispiel 70 Prozent. Und das passt ziemlich gut zu dem, was wir abgeschätzt haben. Es ist wirklich ein reales Phänomen, das in Zukunft zu Problemen führen könnte.
Welche Probleme wären das?
Das Hauptproblem ist: Wir haben keine Ahnung. Die Atmosphäre ist ein unglaublich komplexes Gebilde mit verschiedenen Schichten, die sich alle unterschiedlich verhalten. Auch in Bezug auf das Material gibt es noch viele offene Fragen. Wir wissen nicht, in welcher Höhe das verglühte Material eingebracht wird, in welchem Zustand es ist, wie groß die entstehenden Partikel sind und so weiter. Dementsprechend können wir auch keine Prognosen über die Folgen machen.
Was wir aber sagen können: Es besteht die realistische Möglichkeit, dass das Material in der Atmosphäre die Ozonschicht zerstört. Bei der Zerstörung von Ozon in der Stratosphäre spielen bestimmte Wolken, die so genannten polaren Stratosphärenwolken, eine Rolle. Wenn mehr Staubpartikel oder bestimmte Aerosole durch das Verglühen in die Atmosphäre gelangen, könnten diese Wolken womöglich häufiger entstehen und somit mehr Ozon zerstören. Dies sind katalytische Effekte, das heißt, dass schon kleine Mengen eine große Wirkung haben könnten. Zusätzlich sind einige Stoffe, die im wiedereintretenden Material enthalten sind, zum Beispiel Brom und Chlor, an sich schon zerstörerisch.
Des Weiteren sind Effekte auf das Klima und allgemein vermehrte Wolkenbildung in unterschiedlichen atmosphärischen Schichten möglich. Das Eindringen von Material in die Atmosphäre könnte also zu großen Problemen führen, und trotzdem ist dieser Aspekt bislang völlig vernachlässigt worden. Wir machen im Moment sozusagen ein unkontrolliertes Experiment, indem wir große Mengen an verglühtem Material in die Atmosphäre entlassen, nach dem Motto: „Mal sehen, was das in zehn Jahren für Folgen hat“. Dabei haben der Klimawandel und die Plastikverschmutzung der Ozeane gezeigt, dass ein solches Vorgehen sehr problematisch sein kann. Wir sollten also besser jetzt handeln, bevor wir unsere Atmosphäre irreparabel zerstören.
Wie könnte man das Weltraumschrottproblem in den Griff bekommen?
Im Grunde kann man alle drei eingangs erwähnten Probleme nur dadurch lösen, dass man weniger Satelliten im All einsetzt. Wir müssen herausfinden: Wie viele Satelliten können wir ins All schicken, damit es für die Umwelt noch akzeptabel ist? Wo sind die Grenzen? Wie können wir die Satelliten am effektivsten einsetzen? Wir müssen die richtige Balance zwischen Schaden und Nutzen finden, denn grundsätzlich sind Satelliten und auch Megakonstellationen sehr hilfreich und verbessern zum Beispiel unser globales Internet. Allerdings verstärkt die geopolitische Lage das sinnlose Einsetzen zahlreicher Satelliten im All. Wenn Firmen aus den USA Megakonstellationen ins All schicken, will China das auch. Das heißt, wir könnten irgendwann zehn verschiedene Satellitenkonstellationen für das globale Internet im Orbit haben, die alle das Gleiche tun, anstatt eine gemeinsame Infrastruktur aufzubauen und zu nutzen. Ein globales Zusammenarbeiten mit dem Ziel, die Zahl der Satelliten im All möglichst gering zu halten, wäre hier wünschenswert.
Gibt es irgendwelche Alternativen?
Was auch helfen könnte, ist die Lebensdauer der Satelliten zu erhöhen. Dann würde weniger Weltraumschrott im jeweiligen Zeitraum entstehen. Um das Atmosphärenproblem zu lösen, könnte man erforschen, welche Materialien man verwenden könnte, die weniger schädlich für die Atmosphäre sind. Oder man könnte die Satelliten so bauen, dass beim Verglühen weniger kleine Aerosole entstehen, sondern mehr größere Partikel, die dann schnell zu Boden sinken. Das sind alles Ansätze, über die man nachdenken könnte, um die Situation ein Stück weit zu verbessern.
Um das zu lösen, sind wir aber auf Wissenschaftler*innen aus anderen Forschungsdisziplinen und die Industrie angewiesen. Grundsätzlich würde ich mir wünschen, dass Wissenschaft, Industrie und Politik enger zusammenarbeiten, um herauszufinden, wie man die kommerzielle Raumfahrt nachhaltiger machen kann. Es könnte auch sinnvoll sein, ein internationales Gremium einzusetzen, das diese Weltraumfragen diskutiert und Regeln aufstellt.