Gender meets Engineering Henriette Bertram ist neue Juniorprofessorin für Genderaspekte in den Ingenieurwissenschaften
Warum sollten Ingenieur*innen bei ihrer Arbeit Gender- und Diversitätsperspektiven miteinbeziehen? Bei der Entwicklung von technischen Produkten, bei der Planung von neuen Stadtquartieren? Verändern sich Ingenieurberufe, wenn der Frauenanteil steigt? Das wollten wir von Henriette Bertram wissen. Sie ist neue Juniorprofessorin für das Lehrgebiet „Gender.Ing.“ und wird das Thema Gender Studies in ihren Lehrveranstaltungen für Masterstudierende aller drei ingenieurwissenschaftlichen Fakultäten der TU Braunschweig anbieten. Bianca Loschinsky und Heiko Jacobs haben sich mit Juniorprofessorin Henriette Bertram zum Interview getroffen.
Herzlich willkommen an der TU Braunschweig, Frau Professorin Bertram! Sind Sie gut an unserer Universität angekommen?
Ja, das bin ich. Ich bin seit dem 1. Mai an der TU Braunschweig und ich bin sehr freundlich begrüßt und von den Kolleg*innen am Institut für Bauklimatik und Energie der Architektur aufgenommen worden, auch mit einem großen Blumenstrauß. Bislang habe ich hier noch keine Lehrveranstaltungen gegeben. Vieles wird sich deshalb in den kommenden Wochen und Monaten einfach noch ergeben.
Sie waren vorher am Fachbereich Architektur Stadtplanung Landschaftsplanung der Universität Kassel beschäftigt. Wieso haben Sie sich für die TU Braunschweig entschieden?
Ich fand das ausgeschriebene Stellenprofil so spannend, weil es einige Interessen, die ich im Laufe meines wissenschaftlichen Lebens hatte, zusammenbringt: die Genderaspekte und die technisch-ingenieurwissenschaftlichen Themen. Gleichzeitig bietet die Professur aber noch sehr viel Potenzial für viele weitere Themen. Ich habe also großen Gestaltungsspielraum und bringe auch eigene Schwerpunkte mit. Zudem gibt es in den unterschiedlichen Fakultäten unfassbar viele interessante Menschen, mit denen ich gern zusammenarbeiten möchte.
Warum sollten Ingenieur*innen bei Ihrer Arbeit Erkenntnisse aus der Geschlechterforschung berücksichtigen?
Bisher sind Ingenieur*innen häufig Ingenieure, das heißt, es gibt einen sehr starken Überhang von Männern. Das ist nicht per se schlimm. Aber natürlich bringt jeder Mensch einen gewissen Blick darauf mit, was man erforscht oder was man denkt, was wichtig ist zu erforschen ist und was man für wichtig hält, aus dem eigenen Fach in die Welt zu tragen. Und da fehlen häufig Perspektiven von Frauen.
Aber es geht beim Thema Gender nicht nur um Frauen, sondern es wird auch sehr stark intersektional gedacht, also dass man verschiedene Benachteiligungen und Differenz-Kategorien versucht mitzudenken. Perspektiven von nicht-weißen, migrantischen oder von sozial weniger privilegierten Menschen werden sowohl in der Forschung und Entwicklung als auch in Tests und in der Anwendung noch nicht ausreichend berücksichtigt. Hier sollte man Ingenieur*innen dafür sensibilisieren, dass sie genau das mitdenken, dass Menschen unterschiedliche Lebensrealitäten haben und aus unterschiedlichen Zusammenhängen ihre Produkte nutzen.
Im Studiengang Architektur haben wir seit Jahren Erstsemesterzahlen mit 60 bis 72 Prozent weiblichen Studierenden. Und wir haben nun erstmals in unserer Architekturfakultät mehr Professorinnen als Professoren. Wird jetzt aus diesem Männerberuf innerhalb einer Generation damit ein weiblich geprägter? Verändert das unsere Architektur oder den Umgang damit?
Das ist natürlich eine Glaskugel-Frage. Also ich glaube schon, dass diese Entwicklung einen Berufsstand verändern kann. Nicht unbedingt innerhalb einer Generation. Ich glaube, dass es die Architektur als künstlerischer, designorientierter Ingenieurberuf etwas leichter hat als die anderen dabei, ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis herzustellen, vielleicht sogar ein Überhang an jungen Frauen. Aber es ist weiterhin so, dass es in den meisten Architekturfakultäten mehr Professoren als Professorinnen gibt. Und auch die Bürogründungen sind sehr stark männlich dominiert. Häufig gründen Frauen zusammen mit ihren Lebenspartnern zusammen Büros, aber selten alleine oder mit anderen Frauen. Das entwickelt sich gerade langsam.
Zudem werden Arbeiten von Frauen häufig anders wahrgenommen, weil sie auch teilweise andere Projekte machen. Nicht unbedingt diese spektakulären, singulären Bauten, sondern vielleicht eher innovative Wohnprojekte, wo vielleicht ein anderes Konzept des Miteinanderlebens umgesetzt wird, aber die man nicht so gut auf der Titelseite bringen kann, weil sie auf den ersten Blick wie ein ganz normales Wohnhaus aussehen. Das ist jetzt sehr zugespitzt und pauschalisiert, aber in der Tendenz so erkennbar.
Im Bauingenieurwesen liegt der Anteil bei ca. 40 Prozent, Tendenz steigend gegenüber eher 30 Prozent vor einem Jahrzehnt. Erleben wir einen Weg zu langfristig ausgeglichenen Verhältnissen?
Das kann ich nicht wirklich beurteilen. Aber Frauen wählen eher die Ingenieurstudiengänge, bei denen auch noch gesellschaftlich relevante Aspekte im Vordergrund stehen, also beispielsweise Umwelt und Ressourcenschutz.
Das könnte dann vielleicht auch den steigenden Frauen-Anteil erklären. Denn im Bauingenieurwesen steht an der TU Braunschweig der Nachhaltigkeitsgedanke ebenso wie die Digitalisierung stark im Fokus.
In einem Ihrer Forschungsschwerpunkte setzen Sie sich mit gender- und diversitätssensiblem Planen und Bauen auseinander. Besonders interessiert Sie dabei die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Sorgearbeit. Welche Strukturen behindern hier bislang die Vereinbarkeit?
Die DFG-Forschungsgruppe ist an der Universität Kassel angesiedelt, mit dem Sprecher Professor Uwe Altrock, in dessen Team ich vor meiner Berufung gearbeitet habe. Insgesamt sind es neun Teilprojekte, in denen wir neue, suburbane Stadtquartiere betrachten. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass sich viele Städte in den vergangenen 20 Jahren eher Innenentwicklung und Nachverdichtung priorisiert haben und es einen Trend zur Reurbanisierung gab. Im Zuge der Wohnungsnotdebatte weisen nun viele größere Städte, die weiterhin sehr attraktiv sind und Zuwachs haben, wieder ganz neue Quartiere aus. Das war lange nicht so. Und da setzt die DFG- Forschungsgruppe an.
Mein Projekt geht von einer feministischen und auch insgesamt gendersensiblen Stadt- und Raumentwicklungskritik aus, die die suburbanen Wohngebiete als räumliche Manifestation des Patriarchats gesehen hat. Dahinter steht der Gedanke, dass diese häufig monofunktionalen Gebiete, in denen fast nur Wohnen und vielleicht noch ein wenig Nahversorgung existiert und Verkehrsverbindungen vor allem einseitig auf Pendelwege ausgelegt sind, in der Vergangenheit traditionelle Familienstrukturen begünstigt haben.
Meine Forschungsfrage dazu lautet: Wie wird diese Kritik, die es schon seit 40 Jahren gibt, eigentlich planerisch aufgenommen? Das ist das erste Arbeitspaket. Anschließend möchte ich die Bewohner*innenseite betrachten: Welche Strukturen begünstigen oder verhindern diese Vereinbarkeit? Und wie kann man als Familie eine solche Vereinbarkeit hinbekommen? Die Stadt muss eher noch von der Sorgearbeit ausgehend entwickelt werden, denn sonst funktioniert Erwerbstätigkeit auch nicht.
Das ist ja dann eigentlich fast eine Frage von Flächennutzungsplänen und Bebauungsplänen.
Da muss es auf jeden Fall beginnen. Bereits in den Wettbewerbsausschreibungen sollte aufgenommen werden, dass die Quartiere möglichst kleinteilig gemischt sein sollen, es soll kurze Wege geben. Darüber hinaus sollten Wegeketten möglich sein, die Menschen, die Sorgearbeit leisten, häufig hinter sich bringen, also beispielsweise Einkaufen, Kita, Arzt. Eine Reduktion des Automobilverkehrs ist erwünscht, um die Sicherheit gerade von Kindern oder auch von pflegebedürftigen Erwachsenen zu gewährleisten. Ebenso ist eine Flexibilität von Flächen und eine Anpassungsmöglichkeit sinnvoll, wenn sich die Bewohner*innenstrukturen und damit auch die Bedürfnisse verändern.
Welche unterschiedlichen Bedürfnisse sollten Stadtplaner*innen heute berücksichtigen? Dabei geht es ja nicht nur um die Frauenperspektive.
Ich schaue mir das Ganze eher aus der Perspektive der Sorgearbeit an. Und wie bekommt man es hin, Sorgearbeit zu leisten, ohne im Burnout zu enden. Mein Eindruck ist, dass einige dieser angesprochenen Maßnahmen umgesetzt werden, aber nicht unter einem Gender- oder Sorgeaspekt, sondern eher unter der Maßgabe, Ressourcen oder Flächen zu sparen. Das ist auch alles sehr wichtig. Aber es ist trotzdem noch ein Unterschied im Detail, wie man auf die Flächen oder auf die Nutzung schaut.
Was hat Sie dazu bewogen, in diesem Bereich zu forschen?
Die Themen – feministische Planungskritik, gendersensible Planung – hatte noch niemand vorher in meinem Forschungsverbund besetzt. Das Thema ist sehr spannend und hat mich auch persönlich angesprochen – als dreifache Mutter und jetzt neue Professorin und Professoren-Gattin mit zwei unterschiedlichen Universitätsstandorten.
Mit welchen weiteren Forschungsschwerpunkten werden Sie sich beschäftigen?
Natürlich möchte ich jetzt vor allem mit dem DFG-Projekt starten, das erst vor ein paar Monaten bewilligt wurde. Womit ich mich in Zukunft noch stärker befassen möchte, ist die Frage von Umweltgerechtigkeit, aber auch mit Kommunikations- und Partizipationsprozessen zwischen technikwissenschaftlichen Expert*innen und Nutzer*innen von beispielsweise Räumen.
Welche Rolle spielt für Sie Wissenschaftskommunikation?
Ich finde Wissenschaftskommunikation total wichtig. Wir haben auch eine Verantwortung – gerade in diesen so lebensweltlich geprägten Fächern wie Stadtplanung oder auch Architektur und anderen Ingenieurwissenschaften, dass man auch gut erklären muss, was man erforscht, und eine Akzeptanz für neue Entwicklungen schaffen muss. Technische Innovation ist ja nur etwas wert, wenn Menschen sie gerne nutzen möchten. Und wenn die Kommunikation gut funktioniert, dann ist es viel leichter, für Innovationen Akzeptanz zu schaffen.
Sie haben Ihren Arbeitsplatz am Institut für Bauklimatik und Energie der Architektur (IBEA). Ihre Lehrveranstaltungen werden aber für die Masterstudiengänge aller drei ingenieurwissenschaftlichen Fakultäten offen sein. Was haben Sie da geplant?
Ich habe geplant, im nächsten Semester eine Einführungsveranstaltung „Gender Studies für Ingenieur*innen“ anzubieten. In der Veranstaltung möchte ich auf Produkte, Prozesse und Strukturen in den Ingenieurwissenschaften schauen und die Studierenden dafür sensibilisieren, wo Genderthemen eine Relevanz haben und warum man überhaupt darüber sprechen sollte. Das fängt mit der Frage an: Warum entscheiden sich tendenziell weniger Frauen für ein Ingenieursstudium? Welche Erwartungen werden auch mit verschiedenen sozialen Rollen verbunden? Es geht weiter über die Frage zur Nutzung von technischen Artefakten oder auch zum Design. Was sagt ein technisches Gerät darüber aus, wer es möglicherweise nutzen soll? Welche unterschiedlichen Mobilitätsbedürfnisse haben unterschiedliche Nutzer*innen und wie kann man diese berücksichtigen? Es ist ein Mix aus sozialwissenschaftlich geprägten Einführungen und vielen praktisch-erlebbaren Elementen.
Eine zweite Lehrveranstaltung möchte ich zur blau-grünen Stadt anbieten. Das findet im Rahmen der nationalen Stadtentwicklungspolitik statt, die einmal im Jahr das Projekt „Fachlicher Nachwuchs entwirft Zukunft“ veranstaltet. Da sind alle Architektur- und Stadtplanungs-Studiengänge in Deutschland eingeladen sich zu beteiligen.
Wie möchten Sie Studierende dazu ermutigen, diese Gender- und Diversitätsperspektiven in ihrem zukünftigen Beruf einzubeziehen?
Ich habe die Erfahrung gemacht, wenn man sich einmal damit beschäftigt, dann kann man nicht mehr so tun, als gebe es diese Themen nicht. Man muss natürlich die Bereitschaft mitbringen, die eigene Komfortzone zu verlassen und sich damit auseinanderzusetzen.