Gegen blinde Flecken in der Forschung Wie die Prüfung der Relevanz von Geschlecht und Vielfalt Forschungsergebnisse verbessern kann
Gesellschaftlich relevante Dimensionen wie Geschlecht, soziale und nationale Herkunft und Alter finden auch in der Forschung zunehmend Beachtung. Förderinstitutionen fordern inzwischen von Antragstellenden zu prüfen, ob Geschlechter- und Vielfältigkeitsfragen in ihrem Projekt relevant sind. Um Wissenschaftler*innen hier zu unterstützen, hat das Braunschweiger Zentrum für Gender Studies Beratungsangebote und eine Informationswebsite entwickelt. Im Interview erklärt Juliette Wedl, Geschäftsführerin des Zentrums, wie diese Relevanzprüfungen in der Praxis funktionieren und welche Vorteile sie bieten.
Frau Wedl, was ist eine Relevanzprüfung?
Bei Forschungsanträgen ist es wichtig zu prüfen, ob Geschlechter- und andere Vielfältigkeitsdimensionen in Bezug auf den Forschungsgegenstand inhaltlich oder methodisch von Bedeutung sind und entsprechend berücksichtigt werden sollten. Im Projekt „Geschlechterdimensionen in MINT-Disziplinen“ haben wir bereits existierende Checklisten und Hilfestellungen für diese Prüfung der Relevanz zusammengetragen. Diese sind mit Fallbeispielen und weiteren Informationen auf unserer Website zu finden. Unser Fokus liegt dabei auf Geschlechterdimensionen.
Ziel ist, Forschende mit Beratung und Materialien zu unterstützen, damit sie wissenschaftlich fundiert einschätzen können, ob Geschlechter- und Vielfältigkeitsdimensionen eine Rolle in ihrer konkreten Forschung spielen. Diese Prüfung ist bei Forschungsanträgen z.B. der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) und der EU schon jetzt verpflichtend. Ihre kompetente Durchführung erhöht die Erfolgsaussichten von Anträgen.
Wie sah die Arbeit an der Website aus?
Ich habe das Projekt, das in einem ersten Schritt in der Konzeptphase vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde, im Sommer 2022 im Forschungs-JourFix der „Stadt der Zukunft“ vorgestellt. Dort stellten MINT-Forschende grundlegende Nachfragen, u.a. was Geschlechterdimensionen seien, wie die Prüfung ihrer Relevanz erfolge und wie man das ohne Vorkenntnisse machen könne. Diese häufig gestellten Fragen für alle zu beantworten ist Anstoß für die Website gewesen. Denn zu verstehen, warum Geschlechter- und Vielfältigkeitsdimensionen auch in MINT-Forschung bedeutend sind, ist Voraussetzung, um die Relevanzprüfung kompetent durchführen zu können. Unsere Website geht darauf ein und versammelt hilfreiches Material zur Unterstützung der Forschenden. Dabei wurden die Ausführungen und der Internetauftritt mit den Wissenschaftler*innen getestet und anhand des Feedbacks weiterentwickelt. Wir haben damit praktisch ein zentrales FAQ zum Instrument der Gender-Relevanzprüfung geschaffen, das auch für andere Vielfältigkeitsdimensionen Anregungen gibt.
Wie läuft die Prüfung der Relevanz ab?
Inhaltliche Fragen sind immer an dem konkreten Forschungsgegenstand auszurichten. Es gibt da keine vorgefertigten Antworten. Die Checklisten geben jedoch eine erste Orientierung, welche Fragen wichtig sind. Beispielsweise ist entscheidend, ob Menschen oder Tiere involviert sind. Ist dies der Fall, ist eine Relevanz von Geschlechter- und Vielfältigkeitsdimensionen wahrscheinlich. Wissenschaftliche Erkenntnisse aus anderen Projekten können zudem Anregungen geben, weswegen die Beschäftigung mit anderen Fallbeispiele und Publikationen hilfreich sein kann. Es gilt, sich von verschiedenen Seiten an die Frage heranzutasten.
Welche zentralen Angebote gibt es diesbezüglich an der TU Braunschweig?
Als Zugangsmöglichkeiten bieten wir die Website und ein Beratungsangebot an. Die Website zur Relevanzprüfung ist nach W-Fragen gegliedert: Was ist die Relevanzprüfung? Warum ist sie für die Forschung an der TU Braunschweig wichtig? Wann und wie kann sie erfolgen? Wer kann mir an der TU Braunschweig dabei helfen? Die Materialwebsite verweist ergänzend auf Plattformen zu Geschlecht und MINT-Disziplinen und hat eine Literatursammlung, die nach Themen und Disziplinen sortiert ist. Sie ist noch im Aufbau. Diese Seiten sind damit ein erster Anlaufpunkt zur Information und zur eigenen Recherche. Wissenschaftler*innen können außerdem auf mich zukommen und ein Gender Consulting vereinbaren. Dort nutzen wir dann dieses Instrument und eruieren gemeinsam mögliche Anknüpfungspunkte und Ideen. Wir verweisen auch auf Expert*innen, die vertiefend hinzugezogen werden können.
Haben Sie ein Beispiel von einem Projekt, das Ihre Beratung in Anspruch genommen hat?
Das kürzlich bewilligte SFB/Transregio-Projekt von Prof. Sabine Langer, Institut für Akustik, ist in der Antragsphase auf uns zugekommen. Darin geht es um Akustikfragen in Flugzeugen. Unsere erste Frage war, ob auf Menschen bezogene Daten erforscht werden. Wir haben den Antrag auf entsprechende Schlagworte durchsucht und Stellen identifiziert. Zudem haben wir geschaut, was dazu bereits an Forschung existiert. Auf der Seite der DFG haben wir zudem eine Publikation aus dem Feld der Akustik gefunden. Dieses Glück hat man nicht immer. Als Ergebnis der Beratung haben die Antragstellenden in mehreren Teilprojekten die weitere Prüfung der Relevanz von Vielfältigkeitsdimensionen als Teil des Projektes verankert und somit als weiter zu erforschende Frage markiert.
Was waren in dem Projekt Vielfältigkeitsdimensionen, die geprüft wurden?
In dem konkreten Fall spielen menschliche Körper eine wichtige Rolle. So kann sich z.B. die Hörfähigkeit und das Lärmempfinden von Mensch zu Mensch unterscheiden, das aufgrund von Schwingungen bei Maschinenbetrieb wie einem Flugzeug hervorgerufen wird. Insofern ist zu prüfen, ob u.a. Differenzen aufgrund von Alter oder Geschlecht auftreten. Entsprechend ist auf eine vielfältig zusammengesetzte Nutzer*innengruppen zu achten. Dieses sollte sich beispielsweise bei Versuchen in der Auswahl der Proband*innen widerspiegeln.
Man kann im Allgemeinen die Regel aufstellen: Immer dann, wenn es eine Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine bzw. Artefakten gibt, ist zu prüfen, ob das Geschlecht oder andere Differenzkategorien eine Rolle spielen. Für Naturwissenschaften gilt dies ebenfalls für die Forschung an Tieren bzw. mit Material von Tieren oder Menschen.
Wie oft werden Geschlechterdimensionen in Forschungsprojekten relevant?
Geschlechterdimensionen spielen öfter eine Rolle, als man denkt. Der erste Reflex von Wissenschaftler*innen in den Ingenieur- und Naturwissenschaften ist verständlicherweise häufig: „Nein, Geschlechterdimensionen sind in meiner Forschung unwichtig.“ Denn bisher wurden diese Fragen wenig beachtet. Bei genauerem Hinsehen stellt sich oft heraus, dass ein möglicher Zusammenhang zumindest zu prüfen ist.
Hier gibt es ganz bekannte Beispiele: Der Airbag, der ursprünglich nur mit Crashtest-Dummies getestet wurde, die nach durchschnittlichen männlichen Körpern modelliert waren. Erst sehr viel später kamen an Verletzungseigenschaften von weiblichen Körpern und Kindern modellierte Dummies dazu. Schwangere werden bis heute kaum berücksichtigt. Und dennoch ist nach wie vor in Europa und den USA der Standard-Dummy unverändert 1,75 Meter groß und wiegt 78 Kilo, so dass das Verletzungsrisiko bei von dieser Norm abweichenden Personengruppen höher ist.
Ein anderes Beispiel: Die Medikamentenentwicklung. Es werden immer wieder Medikamente vom Markt genommen, weil Geschlechterdimensionen in der Entwicklung nicht ausreichend geklärt wurden. Mit dem Instrument der Relevanzprüfung können diese blinden Flecke in der Forschung im Vorfeld entdeckt und Qualität, Sicherheit, Akzeptanz und ähnliches verbessert werden.
Wie schneidet Deutschland hier im internationalen Vergleich ab?
International hat Deutschland sehr viel aufzuholen. Gerade die MINT-Disziplinen im deutschsprachigen Raum integrieren anders als in anglophonen Ländern seltener Gesellschafts- und Sozialfragen. Das ist eine fachkulturelle Frage. Geschlechterperspektiven einzubauen und interdisziplinär mit den Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen zu arbeiten, ist in Deutschland noch nicht weit verbreitet. In Frankreich ist es beispielsweise viel gängiger, dass Ingenieur*innen auch Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften studiert haben und dementsprechend für soziale Perspektiven von Technik sensibilisiert sind.
In den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften geht es seltener um Artefakte als um soziale Fragen. Wie sehen hier Geschlechterdimensionen aus?
Hier haben wir es vorrangig mit Menschen zu tun. Überall, wo Menschen eine Rolle spielen, ist die Bedeutung von Differenzkategorien zu prüfen. Insofern wundert es nicht, dass die Gender Studies in diesen Disziplinen stärker verbreitet sind und u.a. Fragen der Erwerbs- und Carearbeit, der Bildung, der Gesundheit und vieles mehr erforschen. In Bezug auf Mathematik und naturwissenschaftliche Fächer zeigen Studien, dass Schüler*innen sich zunächst unabhängig vom Geschlecht mit einer positiven Grundhaltung z.B. der Physik nähern. Schnell entwickeln sich jedoch in der Schule aufgrund von Geschlechterstereotypen das eigene Zutrauen, die Fähigkeiten und die Leistungen unterschiedlich, so dass Geschlechtsunterschiede in den Fächern entstehen und aufrechterhalten werden.
Wie motivieren Sie Wissenschaftler*innen dazu, die Relevanzprüfung anzuwenden?
Die Relevanzprüfung verbessert die Forschungsergebnisse, was ja im Interesse der Forschenden ist. Wenn wir beim Airbagbeispiel bleiben, dann ist ein Airbag, der Schwangere ebenso wie alle Menschen unter und über 1,70 Meter und mit unterschiedlichem Körperbau gleichfalls schützt, ein besseres Sicherheitssystem. Es ist somit auf eine möglichst große Gruppe ausgerichtet.
Die Forschung und die daraus resultierenden Anwendungen können aber auch zielgruppenspezifischer und damit erfolgreicher sein, indem sie Unterschiede berücksichtigen. Ein Beispiel hierfür ist die Wirkung von Medikamenten. Außerdem erhöht sich die Erfolgsquote bei Förderanträgen, wenn Geschlechterdimensionen berücksichtigt werden. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die EU fordern bereits heute, bei der Beantragung von Projekten Relevanzprüfungen vorzunehmen. Und die Zahl der Förderinstitutionen, die auf Relevanzprüfungen bestehen, nimmt weiter zu. Ohne Prüfung geht es eigentlich schon jetzt nicht mehr, auch im internationalen Vergleich. Damit die TU Braunschweig hierfür gerüstet ist, bieten wir die entsprechende Unterstützung.
Vielen Dank für das Interview.