Einladung zum Tsa-Tsa-Ritual Leben mit Yak-Hirten in Tibet, Teil 3: 1.000 Tontafeln für einen Verstorbenen
Manchmal muss man vom eigentlichen Forschungsplan abweichen und neue Wege gehen, um spannende Entdeckungen zu machen. So wie Siran Liang vom Institut für Geosysteme und Bioindikation (IGeo), die während ihres “Deep Hanging Out” bei einer Yak-Besitzergemeinschaft in Tibet immer wieder spontan von Familien in ihr Zuhause eingeladen wird. Im dritten Teil ihres Logbuchs erzählt die Doktorandin von einem Tsa-Tsa-Ritual für einen Verstorbenen.
Ich war auf dem Weg zu einer Umwelt-NGO in der Region Baiyu in Golok (Provinz Qinghai). Neben mir im Bus saß ein junger Mann mit einem Baby, das in seinen tibetischen Mantel gehüllt war. Da ich nicht wie eine Einheimische aussah, war er neugierig und fragte mich, warum ich hier sei. Nachdem ich ihm gesagt hatte, dass ich über die Changtang-Steppe und die Hirten forsche, lud er mich ein, seine Familie zu besuchen. Auch wenn es nicht auf meinem Forschungsplan stand, bin ich froh, dass ich seine Einladung angenommen habe. Hier habe ich glücklicherweise auf mein Bauchgefühl vertraut.
Pema ist 22 Jahre alt und hat gerade sein Studium abgeschlossen. Er bewundert Elon Musk und hat seine Autobiografie gelesen. Seine Frau und er machen sich Gedanken über ihre Zukunft. Beide haben einen Hochschulabschluss, doch Pemas Eltern wünschen sich, dass er in Golok bleibt und seinen Lebensunterhalt als Yakhirte verdient, da dies Sicherheit und Stabilität bedeutet. Er selbst ist ehrgeizig und möchte in eine größere Stadt oder sogar ins Ausland gehen. Kellner in einem Kasino in Macau zu werden, ist einer der vielen Pläne, von denen er mir erzählte.
Pema holte mich in Baiyu mit einem Auto ab, das er sich von einem Freund geliehen hatte. Die meiste Zeit bin ich gefahren, da er seine Fahrprüfung noch nicht bestanden hatte. Das Auto war nicht im besten Zustand: Nur eines der Vorderlichter funktionierte und der Scheibenwischer überhaupt nicht. Das Auto machte Geräusche, die mich befürchten ließen, dass das ganze Auto jeden Moment auseinanderfallen könnte. Ich war die gesamte Fahrt über gestresst, aber Pema war sehr entspannt. Nach über einer Stunde Fahrt bogen wir von der Schotterstraße ab und fuhren zum Zelt seiner Familie. Als wir dort ankamen, war es bereits dunkel und gekochtes Yak-Fleisch wartete auf mich.
Nach dem Abendessen war es Zeit, ins Bett zu gehen. Die Eltern schliefen auf Betten. Pemas Schwester und ich schliefen nebeneinander auf dem Boden. Pema, sein Bruder und sein Schwager übernachteten in anderen Zelten. Die Regentropfen prasselten so laut auf das Zeltdach, dass ich lange Zeit nicht einschlafen konnte. Am nächsten Tag erzählte mir Pema, gerade wegen des Regens habe er wunderbar geschlafen. Dem Geräusch der Tropfen in der Nacht zuzuhören und dabei langsam einzuschlummern sei das beste Gefühl.
Als wir am kommenden Tag mit dem Auto losfahren wollten, bemerkte Pemas Mutter, dass einer der Vorderreifen keine Luft mehr hatte. Pemas Vorschlag folgend, starteten wir das Auto trotzdem, fuhren los, und pumpten den Reifen später mit einer Fahrradpumpe eines Freundes auf. Ich war wirklich froh, dass wir es so weit geschafft haben.
Pema wollte mir zunächst nicht mitteilen, wohin unsere Reise geht, und sagte, es sei eine Überraschung. Das war es auch. Was ich sah, als wir ankamen: Eine ganze Gruppe von Menschen fertigte Tsa-Tsa für Pemas Verwandten, der kürzlich verstorben war. Die Tsa-Tsa, die sie herstellten, waren vergoldete Votivtafeln aus Ton. Ein Mönch, der von der Familie des Verstorbenen konsultiert wurde, hatte ihnen erklärt, dass sie tausend Tsa-Tsa aus Ton für ihn fertigen sollen. Es gibt auch andere Formen von Tsa-Tsa, wie Wind-Tsa-Tsa, Wasser-Tsa-Tsa, Feuer-Tsa-Tsa. Die Herstellung von Tsa-Tsa ist für den Verstorbenen von großer Bedeutung, beispielsweise um eine bessere Wiedergeburt zu erlangen. Aber es ist auch eine verdienstvolle Tätigkeit für die Hersteller*innen. Daher arbeitete im Sommer 2021 die ganze Familie und eine Ethnographin (ich), die zufällig vorbeikam, zusammen, um dieses Ziel zu erreichen.
Auf dem Hügel waren einige junge Männer dabei, roten Ton zu zerschlagen und zu bearbeiten. Viele andere, Männer und Frauen, saßen im Gras und in den Zelten und konzentrierten sich auf die Herstellung von Tsa-Tsa.
Die Familie war sehr freundlich und zeigte mir, wie man Tsa-Tsa herstellt. Zuerst muss man eine Metallform verwenden, um dem Ton eine grobe Form zu geben. Dabei benutzten die Verwandten des Verstorbenen kleine Hämmer oder Yakhörner, um das Metall zu formen. Sobald man ein vages Bild der Gottheit erkennen kann, wird eine etwa einen Zentimeter lange orangefarbene Schriftrolle in die Mitte der Gottheit gelegt.
Danach gibt man etwas mehr Ton auf die Schrift und streut dann Goldpulver auf die gesamte Tafel. Im nächsten Schritt verwendet man die gleiche Form, um die gleiche Platte erneut zu pressen. Diesmal müssen wir kräftig auf die Form einschlagen, um einen klaren Abdruck des Bildes zu erhalten. Zum Schluss kann man das Bild mit einem Messer aus dem Rest des Tons herausschnitzen. So habe ich etwa 50 Tsa-Tsa selbst hergestellt und bin mir ziemlich sicher, dass ich einige Verdienste erworben habe, die mir nach meinem Tod nützlich sein werden. Vielleicht sogar einen schnellen Weg zur Wiedergeburt.
*Anmerkung: Pema hat diesen Artikel gelesen und zugestimmt, dass ich seine Fotos verwenden darf. Ich danke Nicole Börner für das Lektorat und ihre Ratschläge für meine Logbuchartikel.
Text: Siran Liang. Der Beitrag wurde im Original auf Englisch geschrieben. Bei der deutschen Version handelt es sich um eine Übersetzung.