Das Storytelling eines Gebäudes Dan Schürch ist neuer Leiter des Instituts für Entwerfen und Baugestaltung (IEB)
„Physisch noch weit weg, aber mit dem Herzen schon ganz nah“ – Seinen Start im Department Architektur der Technischen Universität Braunschweig hatte sich Professor Dan Schürch etwas anders vorgestellt. Seit dem 1. April leitet der Schweizer Architekt das Institut für Entwerfen und Baugestaltung (IEB) – aus der Distanz, am 1. Juni wurde er zum Professor ernannt. Bianca Loschinsky hat mit ihm darüber gesprochen, wie er die Studierenden aus der Ferne betreut, welche Pläne er für das Institut hat und was er unter dem „emotionalen Potenzial“ eines Gebäudes versteht.
Herr Professor Schürch, Ihr Start als Leiter des Instituts für Entwerfen und Baugestaltung erfolgte aus der Ferne. Sind Sie dennoch gut an der TU Braunschweig angekommen?
Die Atmosphäre des Departments Architektur ist trotz seiner Größe sehr familiär, und der Umgang gefällt mir sehr gut. Da bin ich als Schweizer sensibel. Ich wurde herzlich mit vielen Willkommens-Mails empfangen.
Die Professur habe ich von Professor Rolf Schuster übernommen, das Team ist geblieben. Die Mitarbeitenden sind zum Teil bereits seit mehreren Jahren im IEB beschäftigt, sie kennen sich aus, sind mit den Abläufen vertraut. Wir haben uns erst einmal abgestimmt über unsere Ideen und Pläne. Ich muss sagen, das hat das Team perfekt gemacht! Sie haben sich auf einen neuen Chef eingestellt und konnten dennoch ihre Themen bewahren.
Das Semesterprogramm, an dem die Studierenden seit dem 20. April teilnehmen, war schon erstellt. Es war also alles bereits sehr gut vorbereitet.
Wie betreuen Sie momentan die Studierenden?
Die Assistentinnen und Assistenten schauen sich jede Woche mit den Studierenden die Entwürfe an. Ungefähr alle drei Wochen werfe ich einen Blick darauf, so dass wir die Korrekturen etwas kanalisieren. Das kostet natürlich eine Menge Energie, aber das mache ich sehr gern: mein Wissen weiterzugeben und sie ein wenig an die Leine zu nehmen, damit etwas Gutes dabei herauskommt.
Die Korrekturen müssen jetzt digital vorgenommen werden. Funktioniert das gut aus der Distanz?
Es funktioniert erstaunlich gut. Natürlich gibt es ein paar technische Kinderkrankheiten, wie nicht so gute Internetverbindungen der Studierenden oder dass Dateien nicht reduziert hochgeladen werden. Das führt hin und wieder zu Verzögerungen. Außerdem müssen die Korrigierenden selbst sehr konzentriert sein. Innerhalb weniger Minuten muss man auf dem kleinen Bildschirm erfassen, was die Studierenden sagen. Wenn die Pläne im Institut hängen, kann ich ein wenig herumschauen und noch einen weiteren Blick darauf werfen und damit die ganze Geschichte festhalten. Wenn Studierende digital präsentieren, ist das nur ein Ausschnitt. Es folgt ein Slide nach dem anderen. Das macht es etwas schwierig, den Überblick zu behalten. Bei 70 Studierenden am Tag bleiben pro Entwurf acht Minuten. Das habe ich so noch nie erlebt, dass ich in drei Minuten schon wissen muss, was ich sagen möchte. Das ist wirklich eine Herausforderung.
Auch im Modellbau sollen die Studierenden möglichst kreativ mit der Situation umgehen und gern Materialien nutzen, die ihnen zu Hause zur Verfügung stehen.
Das gefällt mir, dass man etwas wegkommt von den perfekten Bauherrenmodellen, mehr hin zu experimentellen Modellen. Die Studierenden können in einen Baumarkt gehen, sich holen, was es dort gibt, und mit dem experimentieren. Das ist viel näher bei mir als diese fertigen, geschliffenen Modelle.
Wurden Sie bei den Korrekturen bereits von ungewöhnlichen Modellen überrascht?
Ja, ein Student hatte mit Legobausteinen gebaut. Oder ein Foto von Kieselsteinen aus der Natur. Es könnte noch mehr sein, aber es geht in die richtige Richtung. Und ich ermuntere die Studierenden, sich mit neuen Möglichkeiten auseinanderzusetzen.
Was sind Ihre Pläne für das Institut für Entwerfen und Baugestaltung? Welche Ideen haben Sie?
Ich möchte, dass unser Institut eine eigene Identität hat. Mit einer Entwurfsmethodik, die immer ähnlich ist, die Produkte können jedoch sehr vielfältig sein. Was mich nicht interessiert: einen Plan oder ein Objekt sofort dem Institut zuordnen zu können. Aber die Methodik möchte ich den Studierenden jedes Jahr gleich weitergeben. Das hat zu tun mit Referenzarbeiten im Sinne von „Pate stehen“. Dazu ein Beispiel: Ein Haus – mindestens schon 20 Jahre alt – kann ein Referenzobjekt sein. Es soll nicht kopiert werden, sondern man soll die Typologie verstehen, darin ein Thema sehen und das Thema in die heutige Zeit transferieren. Das ist ein Teil der Methodik. Man arbeitet über Bilder und Referenzen. Ich nenne es „Pate“, in der Schweiz „Götti“. Das sind andere Modelle und Fotografien und klassische Mittel, die Liebe zum Plan. Mich interessiert auch nicht das Produkt am Schluss, sondern der Weg dahin.
Übergeordnet ist für mich die Vernetzung der Disziplinen wichtig. Vernetztes Denken, nicht nur interdisziplinär, sondern das Zusammendenken komplexer Systeme. Ein Thema ist zum Beispiel die „Morphologie des Erdgeschosses“. Das ist etwas, das ich als Forschung vertiefen möchte. In Deutschland gibt es Städtebau und Architektur. Die beiden Disziplinen wären theoretisch nah beieinander, aber sie entwickeln sich gegenläufig. Das müsste man aber zusammen bringen. Das Erdgeschoss wäre eine solche Schnittstelle. Wenn man ein Quartier entwirft, ist die Frage: Kann ich überhaupt bodennah leben? Brauchen wir Vorgartengrün oder bekomme ich dort andere Nutzungen hinein? Beispielsweise eine Bäckerei. Dabei muss ich ökonomische Aspekte mitdenken, denn der Bäcker kann es sich voraussichtlich gar nicht leisten, die Miete zu zahlen. Also muss ich Negativmieten einführen, um den Bäcker in das Quartier holen zu können. Es ist ein ganzheitliches Denken notwendig, damit die Stadt wieder erlebbar ist. Am Schluss sind es sehr architektonische Themen. Nur der Weg dahin geht über andere Disziplinen.
Mit unserem Architekturbüro sind wir auch dafür bekannt, dass wir Projekte ernsthaft, aber spielerisch angehen. Unter dem Thema „Stadt der Zukunft“ ist es interessant, Ideen zu entwickeln, wie man den Stadtraum zurückgewinnen kann, weg vom Verkehr. Da kann ich mir sehr spielerische Projekte vorstellen, wie zum Beispiel Parkplätze mit selbstgezimmerten Küchen in einem Stegreif-Entwurf zu besetzen. Also etwas Freches in Braunschweig. Darauf hätte ich Lust. Mal sehen, wie weit man da gehen kann.
Sie hatten bereits den Begriff „Identität“ erwähnt. Wiederkehrendes Motiv der Arbeit Ihres Architekturbüros ist die Suche nach der Identität eines Gebäudes, einer Fassade oder eines ganzen Stadtquartiers. Wie begeben Sie sich auf die Suche und wie entdecken Sie die Identität?
Es gibt Orte, die haben keine Identität. Ein Beispiel: Die Architektur der ETH Zürich ist außerhalb der Stadt angesiedelt, auf dem Campus Science City. Dafür sollten wir einen Gastro-Pavillon entwickeln. Wir haben also für einen Schweizer Franken einen ausgedienten Schweizer Bahnhof gekauft und haben diesen an die ETH gebracht, verfremdet und mit Gastronomie ausgestattet. Das ist identitätsstiftend. Denn jedes Schweizer Dorf hat so einen Bahnhof. Und jeder geht lieber in dieses „Bahnhöfli“ essen als in einem perfekt designtes Restaurant. Dann gibt es Orte mit Identität, also Altstadtsituationen. Hier geht es darum, sich entweder einzugliedern oder eine eigene Sprache zu finden.
Sie möchten das „emotionale Potenzial“ eines Gebäudes ausloten und nutzen. Was meinen Sie damit?
Es ist mir ganz wichtig, dass Gebäude auch Geschichten erzählen. Wenn man ein Gebäude betritt und es gleich versteht, weil das Konzept klar ist, ist man nach spätestens einer Stunde gelangweilt. Wenn man durch ein Gebäude geht, dass man ansprechend findet und nach und nach entdeckt, dann wird man es gern haben. Das Entdecken in einem Gebäude kann Emotionen auslösen. So haben wir ein Kunstprojekt entwickelt, in dem wir Wände in Carrara-Beton gestaltet haben. Dort haben wir alte Porzellanteller hineinbetoniert. Das ist ungewöhnlich: Das eine ist brüchig, das andere ist hart, das eine ist glänzend, das andere matt. Allein das ist schon einmal spannend. Und wenn ich dort hindurchlaufe und Teller mit blauen Verzierungen sehe, denke ich an meine Großmutter, wie sie früher Sauerkraut und Speck gekocht hat. Ich rieche das wieder. Das ist Storytelling. Es ist also nicht nur die Frage, ob das Gebäude schön ist oder nicht, es wird schön, wenn ich es mit Geschichten verbinde.
Was macht für Sie einen guten Entwurf aus?
Es ist ein guter Entwurf, wenn er nach 20 Jahren immer noch gut ist. Er sollte nicht kurzlebig sein. Das hat viel mit Materialität, Haptik und Raumerlebnis zu tun.
Und was bedeutet für Sie Entwerfen?
Es ist ähnlich wie beim Schreiben. Man beginnt, dann fängt man an zu ordnen und schreibt weiter, ordnet wieder, bis man eine gerade Linie erkennt. Ein Entwurfsprozess hat viel mit Auftun und Zusammenfassen zu tun. Eigentlich nie zufrieden zu sein, nicht schlafen können, bis es sitzt. Es muss einen so umtreiben, bis man sagt: Jetzt kann ich mich damit identifizieren, jetzt ist es ein Teil von mir als Person.
Was wollen Sie den Studierenden mit auf den Weg geben?
Ich möchte den Studierenden mitgeben, dass sie die Menschen lieben müssen. Man darf nicht selbstverliebt sein, was die Architektinnen und Architekten oft sind oder werden.
Kennen Sie den Psalm 121, in dem es heißt „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.“ Eigentlich geht es darum, dass wir uns nicht so wichtig nehmen. Wir sind auch nur ein kleiner Teil in der großen Welt. Das haben wir Architekten und Architektinnen noch nicht so ganz begriffen, weil wir denken, die ganze Welt dreht sich um unser Objekt. Sich zurücknehmen, aber dennoch selbstbewusst hinstellen.