20. April 2017 | Magazin:

„Ein guter Algorithmus ist wie ein Gedicht“ Forschung im Fokus: Self-Aware Vehicles

Sebastian Stiller ist Mathematikprofessor, Philosoph und Buchautor. Er entwickelt Algorithmen und erklärt, warum man keine Angst vor ihnen haben muss. Der Wissenschaftler lebt mit Frau und Kind (und einem Saugroboter) in Braunschweig.

Professor Sebastian Stiller, Institute for Mathematical Optimization of the TU Braunschweig. Credit: Hans Scherhaufer

Professor Sebastian Stiller, Institut für Mathematische Optimierung der TU Braunschweig. Bildnachweis: Hans Scherhaufer

Die einfachste Frage zuerst: Was ist ein Algorithmus?

Algorithmisch zu denken bedeutet, zu überlegen, wie man sich etwas überlegt. Das heißt, man findet für Vielfalt ein möglichst einfaches Prinzip. Ein Beispiel: Die schriftliche Addition, die wir schon in der Grundschule lernen, ist ein Algorithmus und vereinfacht das Rechnen ungemein. Selbst fünfstellige Zahlen lassen sich leicht addieren, wenn man nach dem gelernten Schema Schritt für Schritt vorgeht. Auch ein Gesetz und die Straßenverkehrsordnung sind Algorithmen. Sie geben für ganz unterschiedliche Menschen und Situationen einfache Handlungsregeln.

Wann ist Ihnen bewusst geworden, wie alltäglich Algorithmen sind?

Während des Studiums habe ich durchaus schon gelernt, was ein Algorithmus ist und habe das Wissen auch angewendet. Aber wirklich bewusst geworden ist es mir erst, als ich mein Buch geschrieben habe.

Warum haben Sie das Buch geschrieben?

Mir hat es einfach missfallen, wie Algorithmen in der Öffentlichkeit, in den Medien und in der Politik, diskutiert werden. Da werden viele unnötige Ängste geschürt, zum Beispiel dass wir irgendwann von Maschinen regiert werden. Algorithmen sind ein leistungsfähiges Werkzeug, wenn sie an der richtigen Stelle und mit Verstand eingesetzt werden. Aber eben nur ein Werkzeug, dem man auch nicht zuviel zutrauen sollte. Algorithmen erweitern die Möglichkeiten des Menschen, können sie aber nicht ersetzen.

Wo sind Algorithmen denn nützlich?

Algorithmen helfen, die Globalisierung zu managen, Ressourcen und Energie zu verteilen, die Logistik für den weltweiten Handel zu steuern oder in der Forschung, beispielsweise um abzuschätzen, welche Experimente Erfolg versprechen. Algorithmen können auch die Suche nach neuen Antibiotika oder Impfstoffen stark beschleunigen. Ich selber arbeite unter anderem an Algorithmen, die das Autofahren sicherer und Raumfahrtmissionen verlässlicher und kostengünstiger machen können. In Zukunft könnten solche Missionen mit Schwärmen von Raumfahrzeugen durchgeführt werden. Und weil wir natürlich nicht wissen, was sie am Ziel erwartet, müssen wir uns geeignete Handlungsprinzipien überlegen und die Raumfahrzeuge mit den entsprechenden Algorithmen ausstatten.

Wenn Algorithmen doch so sinnvoll eingesetzt werden können, warum gibt es trotzdem diese Ängste?
Das liegt unter anderem an den etwas irreführenden Begriffen, die wir verwenden, zum Beispiel das „autonome“ Auto. Autonom bedeutet „sich selbst Gesetze gebend“. Da kann es schon passieren, dass einige Angst vor wild gewordenen Roboterautos bekommen, die komplett eigenständig entscheiden, was sie tun. Das ist natürlich Unsinn, denn wir Menschen geben ja vor, nach welchen Prinzipien die Autos funktionieren. Und mit autonomen Autos wird das Fahren eben gerade nicht gefährlicher, sondern sicherer. Deshalb forschen wir ja daran.

Und wie bewerten Sie den Ausdruck „künstliche Intelligenz“?

Das ist wahrscheinlich noch schlimmer. Wissenschaftlich ist damit eine bestimmte Art von Algorithmen gemeint. Aber mit Intelligenz im menschlichen Sinn hat es nichts zu tun. Menschliche Intelligenz setzt ein Bewusstsein voraus, zum Beispiel einen Willen, die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen oder Reue zu zeigen. Maschinen haben beziehungsweise können das alles nicht.

Aber was genau ist denn dann künstliche Intelligenz?

Algorithmen der künstlichen Intelligenz sind eine Art künstliches Schätzen. Sie können heute komplexe Spiele wie Schach oder Go gewinnen und arbeiten dabei ähnlich wie der Mensch mit eher halbgaren Regeln, die sich auch aus Spielerfahrungen speisen. Je öfter sie spielen, desto besser werden sie. Es bleibt aber ein Schätzen. Oder kennen Sie das Prinzip für perfektes Schachspielen?

Was kann man gegen die Ängste tun, die Welt werde schon bald durch Maschinen beherrscht?

Wichtig ist vor allem, die Kriterien zu verstehen, die in verschiedenen Algorithmen angewendet werden. Dann sollten Algorithmen auch niemandem mehr Angst einjagen. Aber genau daran hakt es. Ich habe das Gefühl, dass selbst die Entscheider in Wirtschaft und Politik auf diesem Gebiet ziemlich ahnungslos sind. Ein Grundverständnis von Algorithmen sollte zur Allgemeinbildung gehören wie die Themen Politik, Ernährung oder Klima. Man muss auch kein Mathegenie sein, um sie zu verstehen. Jeder Schüler einer 7. Klasse kann lernen, wie ein Suchmaschinen-Algorithmus funktioniert.

Ist Kritik an Algorithmen immer unbegründet?

Nein, man darf einen Algorithmus auch hinterfragen. Taugt er was? Und vor allem: Wie kommt er zu seiner Entscheidung? Wenn zum Beispiel Statistiken dahinterstecken, muss ich das Ergebnis ganz anders bewerten als wenn es eine eindeutige exakte Berechnung ist. Wir sollten immer genau wissen, welche Qualität ein Algorithmus hat. Und auch, wie sich ändernde Umstände auf das Ergebnis auswirken. Deshalb verfolgen wir an der TU auch den Ansatz der „Self-Awareness“, zum Beispiel für das autonome Fahren. Das System soll erkennen können, ob seine Leistung gut genug ist für die aktuell gestellte Aufgabe. Oder ob es besser ist, augenblicklich auf Nummer sicher zu gehen. Ähnlich wie ein Mensch das Selbstbewusstsein hat, nach dem Barbesuch den Autoschlüssel beim Wirt zu deponieren.

Können Sie Beispiele für schlechte Algorithmen nennen?

(Überlegt) Es gibt zum Beispiel eine App, die über Facebook-Likes herausfindet, ob ein Mensch depressiv ist. Sie hat eine höhere Trefferquote als die Freunde dieses Menschen. Das liegt aber nur daran, weil Freunde darin so schlecht sind. Solche Anwendungen halte ich für unverantwortlich. Hier wäre ein Psychologe oder Psychiater sicher der bessere Ansprechpartner. Man kann natürlich alles Mögliche miteinander korrelieren, auch Facebook-Likes mit Depressionen. Aber da fehlt einfach die valide Theorie dahinter.

(Überlegt wieder) Und noch ein Beispiel: Wir haben zu Hause einen Saugroboter, der sprechen kann. Neulich hat er gesagt, die Bürste müsse gereinigt werden. Eigentlich hat sie aber ganz sauber ausgesehen. Trotzdem habe ich sie geschrubbt und geschrubbt, bis meine Frau und ich drauf gekommen sind, dass der Roboter vermutlich nur feststellen kann, ob sich die Bürste dreht oder nicht. Und tatsächlich hatte sich lediglich etwas verklemmt. Der Roboter gibt uns das Gefühl zu wissen, dass die Bürste gereinigt werden muss, so dass wir gar nicht mehr mitdenken. Bei einem alten Staubsauger hätte nur ein Lämpchen geblinkt, wenn etwas nicht Ordnung gewesen wäre. Da hätten wir den Fehler sicher viel schneller gefunden.

Wie lebt es sich denn mit einem Saugroboter?

Eigentlich gut. Aber es ist schon ein bisschen erschreckend, wie wir ihn manchmal vermenschlichen. Mein Sohn rief neulich zum Beispiel: „Robbi, nicht in die Ecke, nicht in die Ecke!“ Und wir haben gesagt: „Der kann dich doch gar nicht verstehen.“ Dann ist uns aber bewusst geworden, dass wird selbst oft über den Roboter reden, als wäre er ein Mensch.

In Ihrem Buch schreiben Sie, ein guter Algorithmus sei wie ein Gedicht. Haben Sie auch eine emotionale Beziehung zu den Formeln?

Wir Wissenschaftler begeistern uns ja in der Regel sehr für unsere Arbeit. Da sind wir tatsächlich manchmal wie im Rausch. Und wenn es einem dann gelingt, am besten um vier Uhr nachts, einen Algorithmus mit einer gewissen Einfachheit und Klarheit zu entwickeln, der dann auch noch die gewünschte Wirkung hat. Wenn sich also alles fügt, und auch am nächsten Morgen noch stimmt, dann ist das schon ein großes Glücksgefühl.

Text: Andrea Hoferichter